Wie Sand in meinen Händen
Tränen traten in ihre Augen. »Ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr, John.«
Er nickte stumm; das Beisammensein mit einem Menschen, den er liebte, war mehr, als er ertragen konnte. Die Gefühle drohten ihn zu überwältigen. Wahrscheinlich hatte sie seine Gedanken erraten, denn plötzlich hatte sie es eilig.
»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte sie und küsste ihn zum Abschied. »Ich sage dir Bescheid, wenn ich weiß, was die Kernspintomographie ergeben hat. Je nachdem, was sie feststellen, könnte Agnes heute schon entlassen werden.«
»Wenn nicht, nehme ich dein Angebot an und leihe mir den Wagen aus.«
»Jederzeit.«
John umarmte sie ein letztes Mal und sah ihr nach, als sie den schmalen Pfad erklomm, der die Böschung hinaufführte. Sie folgte der Mauer bis zum Gipfel des langgestreckten Hügels, blickte zurück und winkte.
John winkte zurück. Er brannte darauf, loszulegen. Die Flut setzte ein, füllte die Gezeitentümpel, bildete Wasserwirbel im Sand. Alle sechs Stunden wechselten die Gezeiten, es war sechs Jahre her, seit er das letzte Mal hier gewesen war, bei seiner Familie. Er stellte sich vor, wie Honor damals und gestern Nacht ausgesehen hatte, als sie wegen Agnes Todesangst ausgestanden hatte.
Er konnte seine Gefühle nicht länger in sich verschließen, brauchte ein Ventil. Er nahm die Spitzhacke und holte aus. Sechs Jahre aufgestaute Sehnsucht brachen sich ihre Bahn, und die Felsbrocken begannen abermals zu fliegen. Nichts und niemand durfte ungestraft seine Töchter verletzen, und er ging auf den Findling los, während die Flut sanft seine Füße umspülte.
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10. Kapitel
N a komm, sag schon«, drängte Regis, die neben Agnes auf dem Bett kauerte. »Was ist auf dem Bild zu sehen?« Cece war gestern Nacht (oder vielmehr heute Morgen?) nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus zur Mauer hinuntergelaufen, um Agnes’ Kamera zu holen, und hatte sie mitgebracht, als sie vorhin ihre Schwester besucht hatte.
»Ich erinnere mich nicht.« Agnes hatte sich gegen die Kissen gelehnt. Ihr Kopf pochte so heftig, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sonnenlicht flutete durch die Fenster herein, und obwohl es hell und schön war, wurden ihre Kopfschmerzen dadurch schlimmer. »Erzähl’s mir noch einmal – wie war er, wie sah er aus?«
»Genau wie früher. Ein Vater, wie man ihn sich nur wünschen kann. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich ihn so groß in Erinnerung hatte. Seltsam.« Regis schüttelte den Kopf. »Du hättest ihn bei der Mund-zu-Mund-Beatmung sehen sollen, oder wie er dich den Strand hoch geschleppt hat. Er hat dir das Leben gerettet, nur damit du es weißt.«
»So etwas ist mir noch nie passiert …«
»Du meinst, dass dir jemand das Leben gerettet und dich davor bewahrt hat, zu verbluten und zu ertrinken? Großer Gott, Agnes … du hättest sterben können.«
»Nein. Ich meine, dass ich auf einen Felsen geprallt bin. Ich bin schon hundert Mal von der Mauer gesprungen. Ich weiß genau, wo dieser Felsen gestanden hat. Ich schwöre dir, er ist gewandert. Vielleicht habe ich aber auch nur die Orientierung verloren …«
»Auf der Suche nach deiner verlorenen Vision«, sagte Regis mit einem trockenen Lächeln.
»Mach dich nicht über mich lustig.«
»Es ist nur so, dass niemand nach einer Vision sucht. Sie kommt von alleine; entweder man hat sie, oder man hat sie nicht. Tante Bernie hatte angeblich eine …«
»Genau! Darum geht es ja. Sie hatte eine Erscheinung, auf dem Anwesen der Akademie, und ich auch, ich schwöre es! Und abgesehen davon, hältst du es nicht für eine wundersame Fügung, dass Dad genau im richtigen Augenblick zur Stelle war? Und mir das Leben gerettet hat?«
»Das war klasse«, räumte Regis ein. »Aber schau, Agnes. Cece hat mir von dem Engel mit den roten Haaren erzählt. Weißt du noch? Es klingt verrückt. Und diese Geschichte mit der Vision …«
»Regis, ich habe ihn fotografiert.«
»Lass sehen«, sagte Regis, und Agnes reichte ihr die Kamera.
Sie beobachtete Regis’ Gesichtsausdruck. Ihre Schwester war skeptisch, was religiöse Angelegenheiten betraf, und war der Ansicht, dass die Natur genügend Wunder bereithielt, um ihren Bedarf an Geheimnissen des Lebens zu decken. Sie war ein praktisch veranlagter Mensch, verließ sich ausschließlich auf ihre eigene Stärke und Willenskraft, um ihre Ziele zu verwirklichen. Deshalb verspürte Agnes nun ein Gefühl des Triumphes,
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