Wie Sand in meinen Händen
die Idee gekommen, aus dieser Höhe ins Meer zu springen?
John ging zu der Stelle hinüber, an der sie ins Wasser eingetaucht sein musste; Kieselsteine knirschten unter seinen Sohlen. Bei Ebbe hinterließ das Wasser Rinnsale im Schlamm. Grüne Wasserpflanzen hafteten an seinen Füßen. Es kümmerte ihn nicht. Seine Tochter, sein Baby, hatte sich an einem Felsen verletzt; es musste einer von denen sein, die er nun vor sich hatte, und er würde alles daransetzen, ihn zu finden.
Es war nicht schwer. Er musterte jeden einzelnen Felsen in der näheren Umgebung; die meisten waren zu klein und letzte Nacht zu tief unter Wasser gewesen, stellten nach menschlichem Ermessen keine ernsthafte Verletzungsgefahr dar. Blieb nur einer, ein Fels, der ihn überragte, wuchtig und ausladend … Er ließ seine Hand über die rauhe Oberfläche gleiten. War das ein Blutspritzer auf dem Granitgestein oder eine Rosenquarzader? Eine innere Stimme sagte ihm jedoch: Das war er, der Fels, der Agnes verletzt hatte.
Er warf sein T-Shirt auf den Strand und machte sich ans Werk. Mit Schaufel und Brechstange, Spitzhacke und Vorschlaghammer, die er sich aus Toms Werkzeugschuppen hinter dem Konvent geliehen hatte – wo er Rasenmäher, Gartengeräte und das Steinmetzwerkzeug von Johns Urgroßvater aufbewahrte.
Mit der Schaufel hob er einen Graben rings um den Felsen aus, häufte den Sand auf eine Seite. Er war kein Teil der Moräne, war nicht mit dem schmalen erhöhten Granitstreifen verbunden, der von der letzten Eiszeit übrig geblieben war. Es war nur ein Findling, der von einem der Felder stammte. Einer seiner Vorfahren hatte ihn vermutlich den Hügel hinuntergerollt, bis ins Wasser – als er das Kelly-Land urbar gemacht und die Mauern errichtet hatte.
Graben war reine Zeitverschwendung. Er griff zur Spitzhacke und holte aus. Jeder Schlag löste Erschütterungen aus, die er am ganzen Körper spürte. Er entdeckte einen Riss, das Gestein gab nach. Splitter flogen. Er schloss die Augen, holte aus, wieder und wieder.
Nach wenigen Minuten war er schweißgebadet und musste innehalten, um Kräfte zu sammeln. Plötzlich vernahm er ein lautes Miauen. Verblüfft blickte er sich um. Er war an Katzen gewöhnt; im Gefängnis von Portlaoise gab es viele streunende Katzen, und im Laufe der Jahre hatten sich einige in seine Zelle verirrt, was er sehr begrüßt hatte. Sie hatten ihm Trost gespendet, doch eine war ihm besonders ans Herz gewachsen: eine kleine weiße Katze, die ihn an Sisela erinnerte.
Er hörte ein Rascheln im Gebüsch oben auf der Böschung. John ließ alles stehen und liegen, schlich näher, um der Sache auf den Grund zu gehen. Wieder und wieder miaute eine Katze, als befände sie sich in Not. Er bückte sich, auf den Stiel der Schaufel gelehnt, und spähte in das Gewirr aus Kletterpflanzen und Strandrosen.
Sie saß so reglos da, dass er sie beinahe übersehen hätte. Eine weiße Katze mit funkelnden grünen Augen, die sich hier versteckt hatte. Die Ähnlichkeit mit Sisela verschlug ihm den Atem, versetzte ihm einen Stich. Seine alte Katze, aus seinem geliebten alten Leben … Aber es konnte nicht Sisela sein – sie wäre inzwischen fast neunzehn Jahre alt. Wahrscheinlich war sie gestorben, während er in Portlaoise seine Haftstrafe verbüßte; er hatte ihr lange nachgetrauert, genau wie allen anderen Dingen, die er verloren hatte. Doch vielleicht hatte sie Junge bekommen … Tränen traten in seine Augen, nahmen ihm die Sicht.
»Du bist es wirklich! Endlich bist du wieder zu Hause!«
John hob den Blick, als er ihre Stimme hörte – da war sie, rannte den Hügel hinunter, durch den Weingarten und über die Wiese mit den Wildblumen, mit wehendem schwarzen Schleier und Habit. John ließ die Schaufel fallen und fing seine Schwester auf, als sie von der Böschung herabsprang.
»Johnny!« Sie brach in Tränen aus.
»Bernie.«
Er hielt seine Schwester in den Armen, ließ seinen eigenen Tränen, seinen seit langem aufgestauten Gefühlen freien Lauf. Bernie, unfassbar und doch so real, hier an dem Strand, den sie von Kindesbeinen an geliebt hatten. Sie war immer für ihn da gewesen, seit dem Augenblick seiner Geburt.
»Du bist wieder da, wirklich und wahrhaftig«, schluchzte sie.
»Ich dachte schon, ich würde diesen Tag nicht mehr erleben.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich dich vermisst habe.«
»Ich dich auch. Deine Briefe haben mir sehr geholfen.«
»Johnny, das war nicht der Rede wert. Ich hätte mir gewünscht,
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