Wie Sand in meinen Händen
Eisenbahnschienen laufen?«
Regis hatte sich mit einem Schaudern daran erinnert. Als sie fünf Jahre alt gewesen war, hatte ihr Vater sie in die Arme genommen, auf das Schienenbett gedeutet und ihr erzählt, dass ein Freund aus Kindertagen eine solche Mutprobe mit dem Leben bezahlt hatte.
»Dann darfst du aber auch nicht gehen!«, hatte sie erwidert.
»Ich bin erwachsen«, hatte er gesagt. »Und das gehört zu meiner Arbeit. Schau dir das Bruchholz an, das sich dort oben in den Felsen verfangen hat. Außerdem dauert es nicht lange, ich mache nur eine kleine Skulptur und beeile mich mit dem Foto, dann bin ich noch vor Sonnenuntergang wieder hier. Wäre das nicht schön, ein Bild vom ganzen Kap, das sich in die Bucht erstreckt?«
»Bitte nimm mich mit!«
»Regis. Väter können ihre Töchter nicht überallhin mitnehmen. So ist das im Leben, ob es einem passt oder nicht. Ich habe dir von dem Jungen erzählt, der von dem Zug erfasst wurde. Bitte versprich mir, niemals auf den Schienen zu gehen, was auch immer geschieht.«
»Das verspreche ich nur dann, wenn du es auch versprichst.«
»John«, hatte Honor mit einer Schärfe in der Stimme gesagt, die sogar Regis aufgefallen war. »Vielleicht hat deine Tochter recht.«
Regis erinnerte sich genau an den Blick ihres Vaters, als er ihr Lächeln erwiderte.
Seine blauen Augen hatten vor Glück gestrahlt. Doch dann war sein Entschluss ins Wanken geraten, sein Blick war zwischen seiner Familie und der Granitklippe auf der anderen Seite der Eisenbahnbrücke hin und her geschweift. Er hatte das Versprechen geben wollen, es aber nicht gekonnt; er hatte sich stattdessen für seine Arbeit entschieden und die Risiken in Kauf genommen, die damit einhergingen. Doch vielleicht war es anders herum: Vielleicht hatte seine Risikofreudigkeit den Ausschlag gegeben, sich für ebendiese Arbeit zu entscheiden.
Regis hatte ihre eigene Wahl treffen müssen: am Strand mit ihrer Mutter und damit in Sicherheit zu bleiben, oder mit ihrem Vater den Gipfel zu erklimmen. Sie liebte beide gleichermaßen, doch sie wusste, dass das Abenteuer ihr im Blut lag, Teil ihres ungebändigten Wesens war.
Sie erinnerte sich jedes Mal an den Tag, wenn sie das hohe Eisenbahnviadukt überquerte. Oder wenn sie das Foto betrachtete, das ihr Vater an jenem Tag gemacht hatte. Es war sepiafarben, als sei es vor einem Jahrhundert aufgenommen worden. Das Bild zeigte die gebrochenen, silbrig verwitterten Kiefernzweige, die er gesammelt und in eine Burg verwandelt hatte, die flachen Natursteine, die er wie Zinnen an der Öffnung der Höhle aufgestapelt hatte.
Die Kamera hatte er vermutlich direkt hinter dem Eingang der Höhle aufgebaut. Das Foto vermittelte ein Gefühl der Geborgenheit. Und gleichzeitig schien der Blick in die Ferne zu schweifen; wie vorausgesagt, sah man das Kap, das weit in das goldbraune Wasser der kleinen Bucht hineinragte und der rechten Seite des Bildes eine feste Kante verlieh.
Manche Leute verglichen seine Skulptur mit einer irdischen Sandburg, für andere besaß sie eine spirituelle Dimension. In einer Rezension war von der »Sehnsucht nach dem Paradies« die Rede, Tante Bernie hatte gemeint, der Turm sei keltisch angehaucht, erinnere an einen Menhir oder Dolmen. Für Regis war es immer eine Burgruine gewesen, genau wie diejenige, die er später in Ballincastle entdeckt hatte.
»Hast du nichts dazugelernt, drüben in Irland?«, fragte Peter nun. »Du hättest dort sterben können – auf einer Klippe, die vermutlich genauso aussah wie diese. Dein Vater hat dich damals nicht beschützt und ist im Gefängnis gelandet.«
»
Deshalb
ist er ja im Gefängnis gelandet«, widersprach Regis. »Weil er mich beschützt hat!«
»Er hat jemanden umgebracht. Mein Vater hat einen Freund in Dublin angerufen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Der hat die Akten eingesehen und gesagt, dein Vater habe ein Geständnis abgelegt. Er hat nicht einmal versucht, Notwehr geltend zu machen. Er ist handgreiflich geworden und hat den Mann von der Klippe gestoßen.«
»Dein Vater hat jemanden beauftragt, meinen Vater zu
überprüfen
?«
»Was dachtest du denn, Regis? Mein Dad ist Rechtsanwalt – natürlich war es für ihn wichtig, etwas über die Einzelheiten zu erfahren. Dazu sind Gerichtsakten schließlich da.«
»Dein Vater war nicht dabei«, erwiderte Regis zitternd. »Und du auch nicht. Du hast keine Ahnung, was genau passiert ist!«
»Woher soll ich auch, wenn du kein Wort sagst. Du hast nie darüber
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