Wie soll ich leben?
verwalteten. Montaigne wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass er in Abwesenheit zum Bürgermeister gewählt worden war. Er müsse unverzüglich zurückkehren, um seine Pflicht zu erfüllen.
Das klang schmeichelhaft, doch wenn man Montaigne glaubt, war es das Letzte, was er sich wünschte. Das Amt würde eine schwerere Bürde sein als das eines Parlamentsrats. Er würde viel Zeit opfern, Reden halten und an Zeremonien teilnehmen müssen – Dinge, die er während seiner Italienreise am allerwenigsten geschätzt hatte. Seine diplomatischen Fähigkeiten würden gefragt sein, denn als Bürgermeister musste er zwischen den verschiedenen religiösen und politischen Gruppen einen Ausgleich schaffen und zwischen Bordeaux und einem unpopulären König vermitteln. Und er musste seine Reise abbrechen.
Sosehr ihn sein Besuch der Bäder enttäuscht hatte, so wenig Lust hatte er, nach Hause zurückzukehren. Er war jetzt seit fünfzehn Monaten unterwegs, eine lange Zeit, aber in seinen Augen nicht lange genug. Es scheint, als habe er versucht, möglichst viel Zeit zu gewinnen. Er lehnte die Bitte der Schöffen zwar nicht ab, beeilte sich aber auch nicht, ihr Folge zu leisten. Zuerst reiste er ganz gemächlich nach Rom hinunter, legte in Lucca einen Zwischenstopp ein und probierte unterwegs weitere Bäder aus. Man fragt sich, warum er überhaupt nach Romging, dreihundert Kilometer in die falsche Richtung. Vielleicht hoffte er, sich der Aufgabe doch noch entziehen zu können. Doch bei seiner Ankunft in Rom am 1. Oktober fand er einen zweiten Brief aus Bordeaux vor, diesmal nachdrücklicher formuliert. Jetzt wurde er «dringend aufgefordert» zurückzukehren.
In der zweiten Ausgabe der Essais betonte er, wie wenig er sich um ein solches Amt bemüht und wie vehement er sich dagegen gesträubt habe. Er schrieb: «Ich lehnte zunächst ab», erhielt aber die Antwort, «dass dies unrecht sei, zumal der Befehl des Königs hinzukam.» Der König sandte ihm sogar einen persönlichen Brief, der ihn noch im Ausland hätte erreichen sollen. Montaigne fand ihn jedoch erst nach seiner Rückkehr vor:
Herr von Montaigne! Da ich Sie für Ihre höchste Treue und Ergebenheit in meinem Dienste hoch schätze, habe ich mit großer Freude vernommen, dass man Sie zum mayor meiner Stadt Bordeaux gewählt hat, und ich habe dieser Wahl, die mir äußerst genehm ist, mit umso größerer Freude zugestimmt, als sie ohne Ränkespiel und trotz Ihrer langen Abwesenheit getroffen wurde. Aus diesem Grund befehle ich Ihnen und fordere Sie hiermit ausdrücklich auf, nach Erhalt dieses Briefes sofort und unverzüglich zurückzukehren, Ihrer Pflicht nachzukommen und Ihr Amt anzutreten, zu dem Sie nach Recht und Gesetz berufen worden sind. Und ich wäre Ihnen sehr gewogen, wenn Sie dem entsprächen, das Gegenteil aber würde ich mit großem Missfallen zur Kenntnis nehmen. Gebe Gott, dass Sie, verehrter Herr von Montaigne, bei guter Gesundheit sind.
Die Ernennung zum Bürgermeister erscheint beinahe als Strafe, wenn man davon ausgeht, dass Montaignes Widerstreben aufrichtig war.
Seine geringe Eile, nach Hause zurückzukehren, deutet jedenfalls nicht auf Machtgier hin. Er ließ sich Zeit und mäanderte über Lucca, Siena, Piacenza, Pavia, Mailand und Turin Richtung Frankreich. Dafür brauchte er sechs Wochen. Als er französischen Boden betrat, schaltete er in seinem Reisetagebuch vom Italienischen wieder ins Französische um, und nach der Ankunft auf seinem Gut notierte er, seine Reise habe «siebzehn Monate und acht Tage» gedauert. Diesmal hatte er ausnahmsweise richtig gerechnet. In seinem «Beuther» trug er unter demDatum des 30. November ein: «Ich bin in meinem Haus angekommen.» Dann stellte er sich den Beamten in Bordeaux vor, gehorsam und bereit, seine Pflicht zu erfüllen.
Montaigne war vier Jahre lang Bürgermeister von Bordeaux, von 1581 bis 1585: ein anstrengendes, aber keineswegs undankbares Amt, ausgestattet mit allen dem hohen Rang gemäßen Insignien. Er hatte eigene Amtsräume, eine Wache, Robe und Bürgermeisterkette und einen Ehrenplatz bei öffentlichen Veranstaltungen. Das Einzige, was fehlte, war ein Gehalt. Dennoch war der Bürgermeister mehr als nur eine Galionsfigur. Gemeinsam mit den Schöffen musste er weitere städtische Amtsträger ernennen, Zivilgesetze verabschieden und gerichtliche Fälle beurteilen – eine Aufgabe, die Montaigne besonders schwierig fand, da er hohe Ansprüche an die Beweisführung stellte. Vor allem aber musste er
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