Wie soll ich leben?
Leute beschwerten sich, schreibt er, dass er in seinem Amt keine bleibenden Spuren hinterlassen habe. «Das ist ja köstlich», gibt er zurück. «In einer Zeit, da fast jeder des Zuvieltuns überführt ist, will man mir meine Zurückhaltung vorwerfen!» Da «Neuerungen [der Protestantismus] […] uns derart bedrängen», sei es gewiss verdienstvoll, die Stadt so lange möglichst unauffällig regiert zu haben. Montaigne hatte längst gelernt, dass sich die Leute oft nur deshalb für öffentliche Belange engagierten, weil sie auf ihren guten Ruf und ihren persönlichen Nutzen bedacht waren oder weil sie sich beschäftigt halten wollten, um nicht über das Leben nachdenken zu müssen.
Ein Problem Montaignes war seine Aufrichtigkeit. Andere, die weniger gewissenhaft waren als er, wurden gelobt, weil sie so taten, als wären sie engagiert und tatkräftig. Montaigne warnte, das sei bei ihm anders: Er würde für Bordeaux tun, «was die wohlverstandene Pflicht von mir verlangte», nicht mehr und nicht weniger.
Montaigne klingt hier wie eine andere große, wahrhaftige Figur der Renaissance-Literatur: Cordelia, die Tochter König Lears aus Shakespeares gleichnamigem Drama, die sich weigert, von ihrer Liebe zu ihrem Vater zu schwärmen, wie es ihre habgierigen Schwestern tun, um sich bei ihm einzuschmeicheln. Montaigne blieb aufrichtig – und wurde als schroff und gleichgültig empfunden. Was Montaigne über sich schreibt, hätte auch Cordelia über sich sagen können:
In den Geruch eines Schmeichlers zu kommen wäre mir auf den Tod verhasst; daher rührt es, dass ich mich ganz von selbst einer trocknen, bündigen und derben Redeweise bediene […]. Aber ich ehre die am meisten, denen ich am wenigsten Ehrerbietung zeige […]. Menschen gegenüber, denen ich mich verbunden fühle, verhalte ich mich wortkargund zurückhaltend; und am wenigsten komme ich jenen entgegen, denen ich am tiefsten ergeben bin – scheint mir doch, sie müssten dies ebenso in meinem Herzen lesen wie die Tatsache, dass meine Worte meinem wahren Empfinden nicht gerecht werden.
Das klingt rebellisch, aber Montaigne wie Cordelia standen in diesem Punkt nicht wirklich auf Kriegsfuß mit ihrer Epoche. In der Spätrenaissance standen die Tugenden der Aufrichtigkeit und Natürlichkeit hoch im Kurs. Indem Montaigne seine Freimütigkeit betonte, verwahrte er sich zugleich gegen einen Vorwurf, der immer wieder gegen die politiques erhoben wurde: Sie würden sich verstellen und einschmeicheln und verdienten kein Vertrauen. An manchen Stellen in den Essais klingt Montaigne fast wie das Zerrbild eines politique: uneindeutig, extrem raffiniert, irrreligiös und ausweichend. Es konnte also nicht schaden, sich gelegentlich unverblümt zu äußern.
Und mit demselben Kniff, der das Fehlen von Türschlössern als eine gute Sicherheitsmaßnahme erscheinen ließ, erwies sich Montaignes ruppige Ehrlichkeit als hervorragender diplomatischer Trick, der ihm mehr Türen öffnete, als die gewundenen Täuschungsmanöver seiner Kollegen es jemals vermochten. Selbst den mächtigsten Fürsten im Land – und vielleicht gerade ihnen – blickte er fest ins Gesicht, um «ihnen rundheraus zu sagen, wo für mich die Grenzen liegen». Seine Offenheit bewog auch andere zur Offenheit und löste ihnen die Zunge wie der Wein und die Liebe.
Die Gefahr, politisch zwischen allen Stühlen zu sitzen, tat Montaigne in der Regel ab. Das Verhalten Menschen gegenüber, die einander spinnefeind waren, sei nicht wirklich schwierig, schrieb er. Man müsse sich beiden Seiten gegenüber mit angemessenem Wohlwollen verhalten, ohne sich an den einen oder den anderen zu binden; man dürfe von anderen nicht zu viel erwarten, ihnen aber auch nichts anbieten. Seine Strategie könnte man in dem Satz zusammenfassen: Mache deinen Job gut, aber nicht zu gut. Er selbst folgte dieser Devise. So hielt er sich aus allen Problemen heraus und blieb gleichzeitig ganz der Mensch, der er war. Er erfüllte seine Pflicht, nicht mehr und nicht weniger.
Nicht alle konnten dies nachvollziehen, doch nicht seine Zeitgenossen, sondern die Nachwelt tadelte ihn dafür. Cordelias Verhaltenerweist sich in Shakespeares Stück als das richtige: An ihrer aufrichtigen Liebe zu ihrem Vater gibt es nicht den geringsten Zweifel. Montaigne dagegen bekam Imageprobleme, die mit seiner Amtsführung als Bürgermeister zu tun hatten. Er wusste, wie riskant es war, in den Essais ganz unprätentiös über sich und seine Handlungen zu
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