Wie soll ich leben?
nicht in fein säuberlichen Schichten wohlgeordnet vor dem Auge des Betrachters, sondern wüst durcheinander wie nach einem schweren Erdbeben.
Auf ähnliche Weise hatte Montaigne seine Essais geschrieben. Er fügte unablässig Zitate und Anekdoten hinzu und recycelte die klassischen Autoren wie die Römer ihre alten Steine. Die Parallele muss ihm aufgefallen sein, denn an einer Stelle bezeichnete er sein Werk als ein Gebäude, das «allein aus den Spänen» Senecas und Plutarchs gezimmert ist. In der Stadt Rom wie in seinen Essais gab er kreativer bricolage und Unvollkommenheit gegenüber steriler Ordnung den Vorzug – und er genoss die geistige Kraftanstrengung, sich aus den Einzelteilen ein Bild zusammenzusetzen. Das Erlebnis der Stadt Rom war also weitgehend die Frucht der eigenen Phantasie. Man hätte fast zu Hause bleiben können – fast, denn es war dennoch etwas Besonderes, dort zu sein.
Dieses Gefühl fast halluzinatorischer Fremdheit kennen viele Rom-Besucher, nicht zuletzt, weil der eigenen Phantasie bereits alles so vertraut ist. Zweihundert Jahre später fand Goethe die Stadt aufregend und irritierend zugleich: «Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig», schrieb er bei seiner Ankunft. «Die ersten Kupferbilder, deren ich mich erinnere (mein Vater hatte die Prospekte von Rom auf einem Vorsaale aufgehängt), seh’ ich nun in Wahrheit, und alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen, Kupfern und Holzschnitten, in Gips und Kork schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir.» Etwas Ähnliches hatte Freud beim Anblick der Akropolis in Athen empfunden, als ihm plötzlich der merkwürdige Gedanke kam: «Also existiert das alles wirklich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben?!» Und gleich darauf das Gefühl: «Was ich da sehe, ist nicht wirklich.» Auch Montaigne befremdete dieses Aufeinandertreffen von innerer und äußerer Wirklichkeit, wenn er von «diesem Rom und diesem Paris» schreibt, «die ich in der Seele trage, so dass dieses Paris, das ich mir vorstelle, in meiner Vorstellung und inneren Sicht ohne Ort und ohne Ausdehnung ist, ohne Holz, ohneStein und ohne Putz.» Es waren Traumbilder wie der Hase, dem der Hund in seinem Traum nachjagt.
Die Stadt Rom vermittelte Goethe einen fast mystischen Frieden: «Ich lebe nun hier mit einer Klarheit und Ruhe, von der ich lange kein Gefühl hatte.» Montaigne hatte das genauso empfunden. Italien besaß für ihn generell diese Wirkung, trotz der Enttäuschungen des Reisenden. «Dabei konnte ich mich eines ruhigen Gemüts erfreuen», schrieb er später in Lucca, fügte jedoch hinzu: «Was mir als Einziges fehlte, war ein Gefährte, der zu mir gepasst hätte. So musste ich all diese schönen Dinge allein genießen, ohne diesen Genuss mit einem teilen zu können.»
Am 19. April 1581 verließ er Rom, überquerte den Apennin in Richtung des großen Wallfahrtsorts Loreto, wo er sich in die Prozessionen mit Fahnen und Kruzifixen einreihte. In der Kirche stellte er eine Votivtafel mit vier in Silber gefassten Figuren auf: die der Muttergottes, die seine, die seiner Frau und die seiner Tochter. Dann ging es weiter die adriatische Küste hoch über die Berge nach Lucca zu den Bagni della Villa, wo er mehr als einen Monat blieb. Wie man es von einem Adligen erwartete, gab er Feste für die Einheimischen und für seine Landsleute, darunter einen Ball, den er mit den «Frauen der näheren Umgebung» eröffnete; er wollte keinen distanzierten Eindruck machen. Er unternahm einen Ausflug nach Florenz und Lucca, kehrte dann zu den Bädern zurück und blieb den ganzen Sommer über, vom 14. August bis zum 12. September 1581. Ihn plagten schwere Nierenkoliken, und er bekam auch noch Zahn- und Kopfschmerzen und schmerzende Augen. Er vermutete, es müsse am Wasser liegen, das dem Kopf, noch mehr aber dem Bauch schadete. «Ich wurde dieses Bads allmählich überdrüssig.»
Dann wurde er unerwartet nach Hause zurückgerufen. Montaigne, der stets für sich in Anspruch nahm, lediglich ein ruhiges Leben führen und seine «tüchtige Neugier» auf Europa stillen zu wollen, hatte ein Angebot erhalten, das er nicht ablehnen konnte.
15
Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Mache deinen Job gut,
aber nicht zu gut!
Bürgermeister
Der Brief erreichte Montaigne während seines Aufenthalts in den Bagni della Villa, und er trug das ganze Gewicht einer fernen Autorität. Unterzeichnet war er von allen sechs Schöffen (jurats) , die zusammen mit dem Bürgermeister Bordeaux
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