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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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sich dem Amt mehr verpflichtet fühlte, als er zugeben wollte.
    Vielleicht revidierte er auch seine Einstellung, nachdem er entdeckt hatte, was für großes politisches Geschick er besaß. Zusammen mit Matignon war er jetzt immer häufiger der Vermittler zwischen den Beamten des Königs, den Rebellen der katholischen Liga in Bordeaux und dem Protestanten Heinrich von Navarra, der in der Region mächtiger war als je zuvor. Besonders gute Beziehungen pflegte er zu den königlichen Beamten und dem Lager Heinrichs von Navarra. Mit den Ligisten wurde es immer schwieriger, da sie jeden Kompromiss ablehnten und nach wie vor entschlossen schienen, Montaigne aus dem Amt zu drängen und die Macht in Bordeaux an sich zu reißen.
    Von besonderer Dramatik war der Aufstand des Ligisten Baron de Vaillac, Gouverneur des Château Trompette der Stadt. Im April 1585 erfuhren Matignon und Montaigne von Vaillacs Umsturzplänen in Bordeaux und besprachen sich wohl, wie sie dieser Bedrohung begegnen sollten: mit einem Gegenangriff oder indem sie auf Vaillac zugingen und versuchten, ihn von seinem Plan abzubringen. Sie entschieden sich für eine Kombination aus Gegenwehr und der Bereitschaft, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Vermutlich mit aktiver Unterstützung Montaignes berief Matignon Vaillac und seine Leute ins Parlament von Bordeaux. Als die Verschwörer vollständig versammelt waren, ließ er die Türen verriegeln. Der gefangene Vaillac hatte jetzt die Wahl zwischen Festnahme mit (wahrscheinlich) nachfolgender Verurteilung zum Tod und der Übergabe der Festung Trompette und dem Abzug aus Bordeaux. Vaillac entschied sich für den Abzug, doch außerhalb der Stadtmauern begann er eine Streitmacht der Liga zu mobilisieren – ein Risiko, das man einging, wenn man seinen Feinden Gnade gewährt.
    Es folgten Tage des Bangens. Am 22. Mai 1585 schrieb Montaigne an Matignon, er und andere Beamte bewachten die Tore gegen die vor der Stadt versammelten Männer. Fünf Tage später teilte er ihm mit, Vaillac halte sich immer noch in der Nähe der Stadt auf. Jeden Tag, berichtete er, gebe es fünfzigmal Alarm.
    Ich habe alle Nächte entweder in der Stadt unter Waffen oder außerhalb am Hafen verbracht, und schon vor Eurer Anordnung hatte ich dort bereits eine Nacht gewacht, auf die Nachricht von einem Boot mit bewaffneten Leuten, das vorbeikommen sollte. Wir sahen aber nichts.
    Am Ende blieb der Angriff aus. Vielleicht zog Vaillac einfach ab und bewies damit, dass Montaigne und Matignon die richtige Strategie verfolgt hatten. Jedenfalls war damit die Krise überwunden, auch wenn sich die politischen Parteien in der Region und in ganz Frankreich bereits für einen neuen Krieg rüsteten und die Liga Montaignes Bemühen um eine Verständigung weiterhin ignorierte.
    Viele, die Montaignes Tätigkeit in dieser Zeit beobachteten, bewunderten ihn. Der hohe Beamte und Historiker Jacques-Auguste de Thou schrieb, er habe «vieles von Michel de Montaigne gelernt, einem Mann frei im Geist, jeder Parteibildung abgeneigt und […] mit großer und sicherer Kenntnis unserer Angelegenheiten und besonders jener seiner heimatlichen Guyenne». Und der Staatsmann Philippe Duplessis-Mornay lobte Montaignes ruhige Hand; er schüre weder Unruhe, noch gerate er selbst schnell in Wallung.
    Wie viele andere zeitgenössische Zeugnisse stimmt auch dieses bemerkenswert genau mit Montaignes Selbsteinschätzung überein. Seine Amtszeit, schrieb er, sei gekennzeichnet gewesen durch «Ordnung» und durch «wohltuende und ungestörte Ruhe». Er hatte Feinde, aber auch gute Freunde. Und die Lösung des Problems Vaillac deutet darauf hin, dass er durchaus zu entschlossenem Handeln fähig war – es sei denn, die Entschlusskraft wäre in diesem Fall Matignon zuzuschreiben.
    Offenbar gab es Stimmen, die Montaigne für zu lax und unengagiert hielten, denn in den Essais zeigt sich eine gewisse Tendenz zur Rechtfertigung, etwa wenn er einräumt, man habe ihm vorgeworfen,er zeige «keinen rechten Eifer». Für manche war Montaigne der Prototyp des politique , der sich auf keine Richtung festlegen lassen wollte. Das war sicher richtig, und Montaigne gestand dies auch durchaus ein. Nur: Seine Kritiker empfanden dies als etwas Negatives, Stoiker und Skeptiker wie er waren anderer Ansicht. Der Stoizismus forderte dazu auf, bedachtsame Distanz zu wahren, während die Skeptiker sich aus Prinzip des Urteils enthielten. Montaignes politische Strategien ergaben sich also aus seiner Philosophie. Die

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