Wie soll ich leben?
als im 19. Jahrhundert die Briefe im Stadtarchiv von Bordeaux wiederentdeckt und veröffentlicht wurden. Die Welt hatte sich inzwischen grundlegend verändert: Heroismus und Selbstaufopferung hatten eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Der Entdecker der Briefe, Arnaud Detcheverry, meinte, sie dokumentierten Montaignes Tendenz zu einem «unbekümmerten Epikureismus», womit er der späteren Kritik den Ton vorgab. Der frühe Montaigne-Biograph Alphonse Grün attestierte Montaigne mangelnden Mut, weil er auf der anderen, sicheren Flussseite blieb. In einer Vortragsreihe zu Grüns Buch äußerte Léon Feugère, Montaigne habe «das Missgeschick gehabt, in der ernstesten Situation seine Pflicht zu vergessen». In seinen Augen diskreditierte dieser Vorfall Montaignes gesamtes Werk. Wenn der Verfasser der Essais in einer solchen Situation versage, wie könne man dann dem trauen, was er über die praktische Lebensführung zu sagen habe? Seine Pflichtvergessenheit entlarve den größten philosophischen Fehler der Essais: die «völlige Abwesenheit von Entscheidung». Andere stimmten ihm zu. Der Chronist Jules Lecomte verurteilte Montaigne und seine ganze Philosophie mit einem Wort: «Feigling!»
Was sie alle unerträglich fanden, war nicht in erster Linie der Mangel an persönlichem Mut – schließlich hatte Montaigne eine Woche lang am Sterbebett eines Pestkranken gesessen –, sondern sein Versagen angesichts einer öffentlichen Aufgabe. Montaignes kühles Kalkül und seine schriftlichen Anfragen wurden jetzt von einer Generation missbilligt, deren moralisch strenges Urteil noch dem Geist der Romantik verpflichtet war: man müsse bereit sein, jedes, selbst das sinnloseste Opfer zu bringen.
Grundlegend für diese Beurteilung Montaignes war – wie im 17. Jahrhundert – die Ablehnung seines Skeptizismus. Leser des 19. Jahrhunderts waren in einem Maße irritiert wie nur wenige nach Pascal. Sie störten sich nicht daran, dass Montaigne vermeintliche Tatsachen anzweifelte, lehnten es jedoch ab, das alltägliche Leben aus der Sicht desSkeptikers zu betrachten und sich von allgemein akzeptierten Verhaltensmustern zu distanzieren. Das skeptische epoché – «Ich enthalte mich» – erschien ihnen Grund genug, Montaigne zu misstrauen und ihn des Nihilismus zu verdächtigen, der das Gespenst der neuen Ära war.
Im späten 19. Jahrhundert war Nihilismus ein Synonym für Gottlosigkeit und existentielle Leere. Er stand für Atheismus und für etwas noch viel Schlimmeres: die Preisgabe aller moralischen Werte. Schließlich wurde «Nihilist» zum Synonym für «Terrorist». Nihilisten waren Menschen, die an keinen Gott glaubten, Bomben warfen und die soziale Ordnung zerstören wollten. Sie wurden als revolutionärer Flügel der Partei der Skeptiker betrachtet oder auch als Skeptiker, die sich auf die Seite des Bösen geschlagen haben. Wenn sie das Sagen hätten, stünde bald kein Stein mehr auf dem anderen und es gäbe überhaupt keine Gewissheiten mehr.
Vor diesem Hintergrund sahen sich die letzten Verteidiger Montaignes plötzlich gezwungen zu beweisen, dass Montaigne während der Pestepidemie vernünftig gehandelt hatte und dass er letztlich kein extremer Skeptiker war, sondern ein konservativer Moralist und guter Christ. Der einflussreiche Kritiker Émile Faguet veröffentlichte eine ganze Serie von Artikeln, in denen er zu zeigen versuchte, dass der Skeptizismus in den Essais nur eine marginale Rolle spielt. Und Edmé Champion entdeckte zumindest keine Spuren jenes destruktiven Skeptizismus, der alles «leugnete» oder «vernichtete».
Die Debatte war deshalb bedeutsam, weil die Essais in Frankreich gerade vom Index der verbotenen Bücher genommen worden waren: 1854, ein, zwei Jahre nach der Entdeckung von Montaignes erstem Brief an die Schöffen im pestverseuchten Bordeaux, wenn auch gewiss nicht als Folge dieses Fundes. Die Entscheidung war vielmehr überfällig gewesen. Trotz der Verurteilung durch die Kirche war Montaigne in Frankreich inzwischen Teil des Kanons und Gegenstand einer neuen literarischen und biographischen Forschungsrichtung. Die Aufhebung des Verbots steigerte den Bekanntheitsgrad der Essais und ebnete ihnen den Weg zu einer größeren Leserschaft, stellte aber zugleich dringlicher die Frage nach ihrer moralischen Akzeptanz.
Wie Pascal und Malebranche betrachteten jetzt viele Montaigne als Betrüger und Seelenverderber. Guillaume Guizot, der ihn 1866einen großen «Verführer» nannte, tat alles, um die
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