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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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schreiben: «Letzten Endes […] geht es, wenn man von sich selber spricht, nie ohne Verluste ab: Alle finden die Selbstbeschuldigungen glaubwürdig und unglaubwürdig das Eigenlob.» Vielleicht hatte die alte Regel, nie über sich selbst zu schreiben, doch etwas für sich.
Moralische Einwände
    Wie eng Montaigne seine Pflicht auslegte, zeigte sich in aller Deutlichkeit im Juni 1585, als in Bordeaux nach einer Hitzewelle die Pest ausbrach: eine besonders unheilvolle Kombination. Die Epidemie wütete bis Dezember, und in diesen wenigen Monaten starben mehr als 14.000 Menschen, fast ein Drittel der Stadtbevölkerung. Damit forderte die Pest mehr Opfer als die Massaker der Bartholomäusnacht im gesamten Land, und dennoch – wie so oft bei Epidemien in Zeiten des Krieges – blieben kaum Spuren dieser Katastrophe im historischen Gedächtnis: Im 16. Jahrhundert wütete die Pest so oft, dass man ihre verheerenden Folgen leicht vergisst.
    Als in jenem Jahr in Bordeaux Gerüchte über einen Ausbruch der Pest in Umlauf kamen, floh aus der Stadt, wer immer die Möglichkeit dazu hatte. Nur wenige Beamte harrten auf ihren Posten aus. Die meisten Mitarbeiter des Parlaments verließen die Stadt, auch vier der sechs Schöffen. Am 30. Juni schrieb Matignon an den König: «Die Pest breitet sich in dieser Stadt so schnell aus, dass niemand geblieben ist, der Mittel und Wege hat, anderswo zu leben.» Das war noch in der Anfangsphase der Seuche. Einen Monat später teilte Matignon Montaigne mit: «Alle Einwohner haben die Stadt verlassen, jedenfalls diejenigen, die ihr in irgendeiner Weise Hilfe bringen könnten; denn die kleinen Leute, die geblieben sind, sterben wie die Fliegen.»
    Matignon zählte offenbar zu denen, die geblieben waren, Montaigne jedoch hatte sich bei Ausbruch der Pest gar nicht in der Stadt befunden.Er war im Begriff gewesen, von zu Hause aus nach Bordeaux aufzubrechen, um am Zeremoniell der Amtsübergabe teilzunehmen. Seine Amtszeit war vorüber, Matignon sollte sein Nachfolger werden. Der 1. August 1585 war sein letzter Tag im Amt; wenn also Matignons Brief vom 30. Juli stammt, blieben Montaigne noch zwei Tage als Bürgermeister. Die einzige Aufgabe, die er zu diesem Zeitpunkt noch zu erfüllen hatte, bestand offenbar darin, der Zeremonie beizuwohnen, mit der Matignons Wahl besiegelt wurde. Doch unter den gegebenen Umständen konnte man davon ausgehen, dass kaum jemand daran teilnehmen würde, falls die Zeremonie überhaupt stattfand.
    Montaigne musste sich also entscheiden, ob er zur Amtsübergabe nach Bordeaux reisen sollte oder nicht. Sein Anwesen war von der Seuche nicht betroffen: Wenn er jetzt nach Bordeaux ginge, würde er um einer reinen Formalität willen in ein Pestgebiet reisen. Was verlangte die Pflicht? Unsicher, was er machen sollte, ging er nach Libourne, das näher an Bordeaux lag, aber noch außerhalb der Gefahrenzone. Von dort schickte er den wenigen noch verbliebenen Beamten einen Brief und bat um ihren Rat. «Ich werde weder Leben noch sonst etwas sparen, um Euch einen Dienst zu leisten», versicherte er, fügte aber hinzu, er überlasse «es Euch, zu urteilen, ob derjenige, den ich Euch durch meine Anwesenheit bei der nächsten Wahl erweisen kann, wert ist, dass ich das Wagestück unternehme, nach der Stadt zu gehen, in Anbetracht des schlechten Zustandes, in dem sie sich augenblicklich befindet». Er werde auf Schloss Feuillas auf der anderen Seite des Flusses Garonne abwarten. Von Feuillas aus schrieb er am folgenden Tag erneut und wiederholte die Frage, was man ihm empfehlen würde.
    Die Antwort der Schöffen ist nicht überliefert. Sicher ist nur, dass Montaigne nicht nach Bordeaux ging. Entweder man riet ihm, der Stadt fernzubleiben – falls überhaupt noch einer der Schöffen in der Stadt war –, oder man antwortete ihm gar nicht. Irgendjemand muss jedoch zu diesem Zeitpunkt noch im Parlament gearbeitet haben, denn es wurde die Order erlassen, dass niemand in die Stadt einreisen dürfe. Wäre Montaigne nach Bordeaux gegangen, hätte er gegen diese Anordnung verstoßen. Offenkundig befragte er sein Gewissen und kehrte auf sein Anwesen zurück. Inzwischen waren auch die letzten beiden Tage seiner Amtszeit verstrichen, die damit offiziell zu Ende war. Statt einesAbschiedszeremoniells und feierlicher Dankesreden gab es nur Verwirrung und Chaos.
    Zu Montaignes Lebzeiten hat anscheinend niemand seine Entscheidung kritisiert. Massive Kritik wurde erst zweihundertsiebzig Jahre später laut,

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