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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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die Ersten außerhalb Frankreichs, die sich Montaigne aneigneten und fast als einen der Ihren betrachteten. Die englische Mentalität schien genau auf seiner Wellenlänge zu schwingen, in vollkommener Harmonie, während sich anderswo tiefe geistige Umbrüche vollzogen.
    Die Geschichte von Montaignes «Nachleben» wurde in diesem Buch bisher parallel zu seiner Lebensgeschichte erzählt, und zwar vorerst bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Jetzt scheint es geboten, einen Augenblick innezuhalten, um seinen Erfolg jenseits des Kanals genauer zu betrachten – in einem Land, das zu besuchen ihm offenkundig niemals einfiel. Dass er dort gleichsam als Flüchtling aufgenommen wurde, hätte ihn in höchstem Maße überrascht, zumal es ein protestantisches Land war.
    Die Religion war einer der Gründe, warum viele englische Leser seit dem späten 17. Jahrhundert die Freiheit hatten, Montaigne zu lesen. Den englischen Protestanten war es egal, dass die katholische Kirche sein Buch auf den Index gesetzt hatte, es verschaffte ihnen sogar die Genugtuung, den Katholiken eins auszuwischen – und noch mehr den Franzosen. Diese schienen ohnehin unfähig, ihren besten Autoren die angemessene Wertschätzung entgegenzubringen, zumal die Académie Française der französischen Literatur strenge Maßstäbe auferlegte. «Ein form- und regelloses Daherreden», wie Montaigne sein eigenes Schreiben charakterisierte, hatte in dieser neuen französischen Ästhetikkeinen Platz. Die englische Sprache nahm ihn dagegen auf wie einen verlorenen Sohn. Das Englische, das überbordende und anarchische Idiom Chaucers und Shakespeares, schien für diesen Autor die genuine Sprache zu sein. Lord Halifax, dem eine Übersetzung des 17. Jahrhunderts zugeeignet ist, bemerkte, Montaigne zu übersetzen sei «für uns nicht nur ein immenser Gewinn, sondern ein gerechter Tadel der kritischen Impertinenz jener französischen Skribenten, die große Mühe darauf verwendet haben, an ihm herumzukritteln, um den Ruf dieses großen Mannes zu schmälern, den die Natur zu groß gemacht hat, um sich in die engen Grenzen eines bemühten Stils zwängen zu lassen». Und der Essayist William Hazlitt vereinnahmte Montaigne – und Rabelais – in einem Text mit dem Titel «On Old English Writers and Speakers» kurzerhand als englische Autoren, was er mit den Worten begründete: «Diese betrachten wir als in hohem Maße englisch oder als das, dem die altfranzösische Wesensart zuneigte, bevor sie durch Höfe und Akademien der Kritik korrumpiert wurde.»
    Wenn die englischen Leser vom Stil der Essais angetan waren, so noch viel mehr von deren Inhalt. Sie schätzten Montaignes Bevorzugung konkreter Details gegenüber der Abstraktion, ebenso sein Misstrauen gegenüber allem Akademischen, sein Plädoyer für Mäßigung und Bequemlichkeit und sein Bedürfnis nach Rückzug, nach einem «Hinterzimmer in seinem Geschäft». Auf der anderen Seite fanden die Engländer genau wie Montaigne Geschmack am Reisen und am Exotismus. Unter der ruhigen Oberfläche seines Konservatismus konnte ein völlig unerwarteter Radikalismus aufbrechen, genau wie bei ihnen. Meistens jedoch war er am glücklichsten, wenn er seiner Katze beim Spielen am Kamin zusehen konnte, genau wie die Engländer.
    Hinzu kam seine Philosophie, wenn man sie so nennen kann. Die Engländer waren keine geborenen Philosophen. Sie spekulierten nicht gern über das Sein, die Wahrheit und den Kosmos. Wenn sie ein Buch zur Hand nahmen, wollten sie Anekdoten, merkwürdige Charaktere, geistreiche Tiraden und einen Hauch Phantasie. Wie Virginia Woolf über Sir Thomas Browne sagte, einen der zahllosen englischen Autoren, die in der Art Montaignes schrieben: «Der englische Geist ist von Natur aus geneigt, sich in den lockersten Launen und Stimmungen zu tummeln und darin sein Vergnügen zu finden.» Aus diesem Grundfeierte auch William Hazlitt Montaigne mit Worten, die einer unphilosophischen Nation aus der Seele sprachen:
    Wenn er zur Feder griff, gebärdete er sich nicht als Philosoph, als kluger Kopf, Redner oder Moralist, sondern er wurde dies alles einfach dadurch, dass er wagte, uns zu erzählen, was immer ihm in aller Schlichtheit und Eindringlichkeit durch den Sinn ging und was er in irgendeiner Form für mitteilenswert hielt.
    An einer der seltenen Stellen, wo Montaigne sich selbst als Philosophen bezeichnete, tat er dies nur, um zu sagen, er sei ein «Philosoph aus Zufall, ohne Vorbedacht». Er habe seine Gedanken über seine

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