Wie soll ich leben?
emotional beschreibt sie ihre erste Begegnung mit Montaigne – zuerst mit seinen Essais , dann mit deren Verfasser. Irgendwann mit achtzehn, neunzehn stieß sie, offenkundig per Zufall, auf eine Ausgabe der Essais . Diese Erfahrung war so erschütternd, dass ihre Mutter befürchtete, die Tochter habe den Verstand verloren, und ihr Nieswurz geben wollte, ein traditionelles Mittel gegen Wahnsinn. So jedenfalls erzählt es Marie de Gournay. Sie hatte das Gefühl, in Montaigne ihr zweites Ich gefunden zu haben, den einzigen Menschen, zu dem siesich aufrichtig hingezogen fühlte, und den einzigen, von dem sie sich verstanden glaubte. Diese Erfahrung teilte sie mit vielen seiner Leser:
Woher wusste er das alles über mich? (Bernard Levin)
Es kommt mir vor, das sei ich selbst. (André Gide)
Hier ist ein Du, in dem mein Ich sich spiegelt, hier ist die Distanz aufgehoben. (Stefan Zweig)
Gournay wollte Montaigne unbedingt persönlich kennenlernen, doch als sie Erkundigungen einholte, hieß es, er sei tot. Als sie dann ein paar Jahre später, 1588, mit ihrer Mutter in Paris war, erfuhr sie, dass er noch lebte. Und nicht nur das, sein Name war in aller Munde. Kühn schickte sie Montaigne eine Einladung ihrer Familie: ein ungewöhnlicher Schritt für eine junge Frau ihres Ranges gegenüber einem sehr viel älteren Mann aus einer höheren sozialen Schicht, über den ganz Paris sprach. Montaigne, angetan von ihrer Chuzpe und den Schmeicheleien einer so jungen Frau nicht abgeneigt, nahm die Einladung an und besuchte sie am folgenden Tag.
Marie de Gournays Schilderung zufolge war diese Begegnung emotional intensiv und intim, wenngleich nicht in körperlicher Weise, denn am Ende lud er sie in aller Form ein, seine geistige Adoptivtochter zu werden, ein Angebot, das sie sofort annahm. Wie die Unterhaltung im Einzelnen verlief, kann man sich nur ausmalen. Schwärmte sie ihm von ihrem Gefühl der inneren «Affinität» vor? Erzählte sie ihm die Geschichte mit der Nieswurz? Man kann sich gut vorstellen, dass sie in einem wirren Redeschwall mit allem herausplatzte. In einem späten Einschub zu den Essais beschreibt Montaigne eine merkwürdige Episode, offenkundig bei einer ihren folgenden Begegnungen. Er sah «eine Jungfer» – weitere Bemerkungen lassen keine Zweifel daran, dass es sich um Marie de Gournay handelte, die,
um ihre Zuneigung, die Inbrunst ihrer Versprechen und auch ihre Standhaftigkeit zu bezeugen, eine große Nadel hervorzog, die sie in ihren Haaren trug, und sich damit vier, fünf tiefe Stiche in den Arm beibrachte, so dass ihre Haut aufriss und sie vom Blut überströmt wurde.
Wann immer dieser an Selbstverstümmelung grenzende Akt geschah, man darf vermuten, dass es Marie de Gournay war, die bei dieser Begegnung die Unterhaltung bestritt. Der Gedanke einer Vater-Tochter-Beziehung stammte wahrscheinlich eher von ihr als von ihm. Vielleicht versuchte Montaigne sogar, aus ihrer Begeisterung sexuellen Vorteil zu ziehen, musste aber einsehen, dass es besser war, sie als seine Adoptivtochter zu betrachten. Vom ersten Augenblick ihrer Montaigne-Lektüre an hatte Gournay das Gefühl gehabt, geistig derselben Familie anzugehören wie er, jetzt wurde dies auch offiziell bekräftigt. Montaigne trat an die Stelle ihres verstorbenen Vaters, und sie wurde in den kleinen Kreis der Frauen um ihn herum aufgenommen, die ihm, Montaigne, ohnehin ein Rätsel waren.
Selbst wenn er vor allem deshalb bereit war, ihren père d’alliance zu spielen, um ihren Willen zu erfüllen, wies er sie später nicht zurück. Marie de Gournays Einladung, sie und ihre Mutter in der Picardie zu besuchen, bot ihm eine willkommene Gelegenheit, sich – weit weg von Paris mit seinen politischen Verpflichtungen und der Gefahr, erneut verhaftet zu werden – von seiner Krankheit zu erholen. Es ergab sich auch die Gelegenheit zu arbeiten. Er und seine neue Tochter machten sich unverzüglich ans Werk, die Ausgabe der Essais von 1588 durch Zusätze zu ergänzen: für Marie de Gournay gewiss eine aufregende Erfahrung. Ihr Bestreben war es nie gewesen, Montaigne in eine Decke zu packen und beschaulich bis ins hohe Alter zu pflegen. Sie wollte, dass er schreibt, damit sie seine Schülerin sein konnte. Und allem Anschein nach beflügelte sie Montaigne mit ihrem Enthusiasmus, die Essais fast unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung erneut zur Hand zu nehmen und daran weiterzuarbeiten, auch dann noch, als er aus der Picardie abgereist war. So gab sie den
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