Wie soll ich leben?
so lange brauchte:
Die Trennung der verschiedenen Textstufen wurde durch Feststellung und Analyse klarer materieller Fakten vorgenommen […]. Unseres Erachtens ist diese Trennung dann ordnungsgemäß durchgeführt, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. alle von der Analyse gelieferten Elemente zu berücksichtigen; 2. nur diese Elemente zu berücksichtigen. Die Ergebnisse haben die Effizienz dieser Methode bewiesen […].
Als er ein paar Jahre später erneut Rechenschaft über den Fortschritt seiner Arbeit ablegen musste – seine Transkription war immer noch nicht abgeschlossen –, versuchte er es mit einer anderen Argumentation:
Was jetzt noch zu tun ist, wurde größtenteils bereits in die Wege geleitet und könnte in relativ kurzer Zeit abgeschlossen sein, was jedoch schwierig ist, da immer wieder neue unvorhergesehene Probleme auftauchen.
Cagnieul brachte sein Vorhaben nie zum Abschluss. Andere waren erfolgreicher. Anfang des 20. Jahrhunderts waren drei verschiedene Fassungen in Vorbereitung: eine Édition Phototypique, die die Bände lediglich als Faksimile reproduzierte; die Édition Municipale, herausgegeben von dem wichtigtuerischen Fortunat Strowski; und die Édition Typographique, herausgegeben von dem nicht weniger selbstherrlichenund schwierigen Arthur-Antoine Armaingaud. Sie versuchten, einander zu übertrumpfen wie zwei sehr langsame Rennpferde bei einem langen Rennen. Strowski gewann die erste Runde und brachte 1906 und 1909 die ersten beiden Bände heraus. Er behauptete kühn, eine andere Edition sei jetzt nicht mehr notwendig. Auf sein Drängen hin wurde das Bordeaux-Exemplar von nun an in einem Raum mit niedriger Zimmertemperatur und lichtgeschützt aufbewahrt, und sein Konkurrent Armaingaud konnte die Seiten des Bandes nur noch durch dicke Scheiben aus grünem oder rotem Glas lesen: eine reine Schikane. Doch Armaingaud ließ sich nicht abschrecken. Sein erster Band erschien 1912, wurde aber auf 1906 vordatiert, um ein zeitgleiches Erscheinen mit Strowskis Ausgabe vorzutäuschen.
Das Spiel ging weiter. Eine Zeitlang lag Armaingaud vorn, doch dann geriet seine Arbeit ins Stocken. Er isolierte sich auch mit unorthodoxen Ansichten über Montaigne, insbesondere mit der Behauptung, dieser sei der wahre Verfasser des Traktats Von der freiwilligen Knechtschaft . Wie Marie de Gournay vor ihm und viele Literaturtheoretiker nach ihm betrachtete er sich als denjenigen, der bei Montaigne geheime Bedeutungsebenen zu entdecken vermochte. Wie es einer seiner Konkurrenten sarkastisch formulierte: «Er allein kennt ihn bis auf den Grund, er allein kennt seine Geheimnisse, er allein kann in seinem Namen sprechen und sein Denken interpretieren.» Armaingaud arbeitete zumindest weiter, wenn auch im Schneckentempo, doch Strowski wurde jetzt von anderen Projekten abgelenkt und brachte den letzten Band seiner Edition nicht zum Abschluss. Schließlich übertrugen die Behörden von Bordeaux, die seine Herausgebertätigkeit finanzierten, die Leitung François Gébelin, der 1919 den letzten Band vorlegte, fünfzig Jahre nachdem das Unternehmen in Angriff genommen worden war. Kommentar- und Konkordanzbände folgten 1921 und 1933 unter Federführung des umsichtigen Montaigne-Forschers Pierre Villey, dessen Leistung umso bemerkenswerter ist, da er seit seinem dritten Lebensjahr blind war. Er schloss seine Arbeit gerade noch rechtzeitig vor Beginn der Feierlichkeiten in Bordeaux zu Montaignes vierhundertstem Geburtstag im Jahr 1933 ab, doch die Organisatoren vergaßen, ihn einzuladen. Unterdessen hatte auch Armaingaud seine Ausgabe abgeschlossen, so dass schließlich zwei hervorragende Transkriptionender Essais vorlagen. Beide Editionen hatten ein wichtiges Grundelement gemeinsam: Nachdem die Herausgeber so hart um den Zugang zu dem Bordeaux-Exemplar gekämpft hatten, orientierten sie sich ausschließlich an dieser Textfassung und ignorierten Marie de Gournays Ausgabe fast vollständig. Sie teilten auch die höchst unmontaignische Neigung, in allen Fragen der wissenschaftlichen Textedition das letzte Wort haben zu wollen.
Die beiden Ausgaben blieben für den Rest des 20. Jahrhunderts maßgeblich. Diejenige von 1595 diente von nun an nur noch zum Nachschlagen gelegentlicher Wortvarianten, der Verweis auf diese Ausgabe erfolgte in den Fußnoten. Ansonsten wurden kleine Variationen als Beleg für Marie de Gournays nachlässige Herausgebertätigkeit betrachtet. Man ging davon aus, dass auch Gournay das Bordeaux-Exemplar
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