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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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der das Buch in Frankreich überhaupt veröffentlicht werden konnte. Deshalb wurde der Markt mit schmalen Bändchen überschwemmt, deren Texte nicht Montaigne zugeschrieben wurden, oder mit Werken, deren Titel wie L’Esprit des Essais de Montaigne (Der Geist von Montaignes Essais) oder Penseés de Montaigne (Gedanken Montaignes) die reine Essenz suggerierten. Die Penseés de Montaigne waren ein auf 214 Seiten zusammengeschnurrtes Destillat, in dessen Einleitung es hieß: «Nur wenige Bücher sind so schlecht, dass nichts Gutes in ihnen zu finden ist, und nur wenige sind so gut, dass sie nichts Schlechtes enthalten.»
    Bis heute werden immer wieder gekürzte Ausgaben großer Werke der Weltliteratur auf den Markt geworfen. Der Verleger einer solchen jüngst erschienenen Reihe wurde mit den Worten zitiert: « Moby Dick muss schon im Jahr 1850 schwierig gewesen sein – im Jahr 2007 ist es nahezu unmöglich, sich darin zurechtzufinden.» Doch wenn man dem Moby Dick zu viel Walfischspeck wegschneidet, bleibt irgendwann überhaupt kein Wal mehr übrig. Auch der «Geist» von Montaignes Essais lebt in dem, was Verleger am liebsten ganz herausschneiden würden: in seinen Exkursen und Kehrtwendungen und in seiner sprunghaften Gedankenbewegung. Kein Wunder, dass Montaigne selbst sich genötigt sah zu sagen: «Jeder Auszug aus einem gescheiten Buch ist dumm.»
    Trotzdem wusste auch er, dass Lesen immer ein selektiver Prozessist. Auch er traf eine Auswahl, wenn er ein Buch zur Hand nahm, und umso entschiedener, wenn er es gelangweilt zur Seite legte. Montaigne las nur, was ihn interessierte; seine Leser und Herausgeber verfahren mit ihm genauso. Und so ist jede Lektüre der Essais letztlich ein Esprit des Essais de Montaigne , selbst die eines Wissenschaftlers.
    Vielleicht sind Wissenschaftler sogar besonders anfällig für dieses selektive Lesen. Moderne Kritiker neigen in extremem Maß zu Remixes und Remakes eines Montaigne, der ihnen selbst ähnlich ist, individuell wie gattungsspezifisch. So, wie die Romantiker einen romantischen Montaigne, die viktorianischen Moralisten einen Moralisten und die Engländer einen englischen Montaigne suchten und fanden, so stürzen sich die «dekonstruktivistischen» oder «postmodernen» Kritiker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts voller Begeisterung auf das, wofür sie selbst prädisponiert waren: einen dekonstruktivistischen und postmodernen Montaigne. Dieser Montaigne ist dem zeitgenössischen Kritiker so vertraut geworden, dass man sich schon gewaltig anstrengen muss, um einen Schritt zurückzutreten und zu erkennen, was er tatsächlich ist: ein Artefakt oder jedenfalls ein kreativer Remix.
    Postmoderne Denker betrachten die Welt als ein sich beständig veränderndes System von Bedeutungen, und so konzentrieren sie sich auf einen Montaigne, der die Welt als «ein ewiges Auf und Ab» und den Menschen als «ein seltsam wahnhaftes, widersprüchliches, hin und her schwankendes Wesen» bezeichnet, «in sich selber doppelt». Überzeugt, es könne kein objektives Wissen geben, fühlen sie sich zu Montaignes Gedanken über sich verändernde Perspektiven und den Zweifel hingezogen. (Auch dieses Buch ist gegen diese Versuchung nicht immun, ist es doch gleichfalls ein Kind seiner Zeit.) Das ist verführerisch, schmeichelhaft: Man blickt in den Spiegel seiner Montaigne-Ausgabe, und noch ehe man die berühmte Frage der Königin aus Schneewittchen gestellt hat, kommt schon die Antwort: « Du bist die Schönste im ganzen Land.»
    Ein Grundzug macht die neuere kritische Literaturtheorie ganz besonders anfällig für diesen Effekt des magischen Spiegels: ihre Neigung, über den Text zu sprechen statt über den Autor. Statt sich zu fragen, was Montaigne «wirklich» hatte sagen wollen, oder den historischen Kontext zu untersuchen, betrachtet man vorrangig das Geflechtder Assoziationen und Bedeutungen, welches wie ein riesiges Fischernetz ausgeworfen werden kann, in dem alles hängen bleibt. Das ist nicht nur ein Wesensmerkmal des strikten Postmodernismus. Auch die neuere psychoanalytische Literaturkritik überträgt ihre Analyse auf die Essais statt auf den Menschen Montaigne. Manche scheinen dem Buch geradezu ein Unterbewusstsein zuzuschreiben. Wie ein Psychoanalytiker die Träume eines Patienten deuten kann, um herauszufinden, was darunter verborgen ist, so kann auch ein Kritiker die Etymologie, den Klang, versehentliche Ausrutscher, ja sogar Druckfehler untersuchen, um unterschwellige

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