Wie soll ich leben?
haben mag.»
Das Einzige, was sich weiterhin verkaufte, war ihre Ausgabe von Montaignes Essais . Doch auch hier schlug ihr Neid entgegen, und im 18. und 19. Jahrhundert fing man an, sie als eine Parasitin auf Kosten Montaignes zu betrachten. Dieser Vorwurf enthält zwar ein Körnchen Wahrheit – sie benutzte Montaigne ja tatsächlich, um zu überleben –, ignoriert aber, wie sehr sie sein Werk förderte und es gegen Angriffe in Schutz nahm. Die Leidenschaftlichkeit dieses Engagements allein konnte allerdings auch verdächtig wirken. Noch im 20. Jahrhundert wurde sie von dem Montaigne-Herausgeber Maurice Rat als «weißhaarige alte Jungfer» geschmäht, «die den Fehler machte, zu lange zu leben» und deren «aggressive und griesgrämige Einstellung» mehr Schaden als Nutzen angerichtet habe. Selbst der bedachtsame Pierre Villey, der gewöhnlich ihre Partei ergriff, erlag bisweilen der Versuchung, sich über sie lustig zu machen, und verübelte ihr, dass sie sich mit La Boétie verglichen hatte. Im Allgemeinen wird Marie de Gournays Freundschaft mit Montaigne nach anderen Kriterien beurteilt als die Freundschaft Montaignes mit La Boétie, die in allen Einzelheiten analysiert und psychologisch durchleuchtet wurde. Gournays «Adoption» durch Montaigne wurde lange mit jenem herablassenden Lächeln bedacht, das sie so erbost hatte.
Mit dem Aufstieg des Feminismus, als dessen Pionierin Marie de Gournay heute betrachtet wird, hat sich ihr Bild gewandelt. Der Erste, der sie angemessen würdigte, war Mario Schiff, der 1910 eine Monographie mit ihrem feministischen Werk im Anhang herausbrachte. Seither ging es stetig bergauf. Das Schlusskapitel von Marjorie Henry IlsleysBiographie A Daughter of the Renaissance aus dem Jahr 1963 trägt den Titel «Marie de Gournays Aufstieg». Seither entstanden immer neue Biographien und wissenschaftliche Ausgaben ihrer Werke sowie romanhafte Beschreibungen ihres Lebens.
In jüngster Zeit hat auch eine Neubewertung ihrer Ausgabe der Essais von 1595 eingesetzt, die im 20. Jahrhundert weitgehend unbeachtet blieb und nur in Fußnoten erwähnt wurde, nachdem sie drei Jahrhunderte lang als die einzig maßgebliche gegolten hatte. Sie scheint, wie Marie de Gournay selbst, eine erstaunliche Widerstandskraft zu besitzen.
Die Herausgeberkriege
Gournays Ausgabe von Montaignes Essais wurde am schärfsten abgelehnt, als ihr Ruf sich zu bessern begann. Für dieses merkwürdige Paradox gibt es eine einfache Erklärung. Vorher gab es für ihre Ausgabe keine Konkurrenz, doch Ende des 18. Jahrhunderts tauchte in den Archiven von Bordeaux eine andere Textfassung auf: ein Exemplar der Ausgabe von 1588 mit zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen Montaignes, seiner Sekretäre und Assistenten, darunter auch Marie de Gournays.
Dieses sogenannte Bordeaux-Exemplar rückte jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als die Forscher anfingen, die Texte akribisch genau zu untersuchen. Dabei stellten sie fest, dass das Bordeaux-Exemplar und Gournays Ausgabe von 1595 nur oberflächlich übereinstimmten. Mit der Lupe betrachtet, wiesen die beiden Exemplare mehrere tausend Unterschiede auf, die sich über den gesamten Text verteilten. Hundert von ihnen waren bedeutungsverändernd, einige präsentierten gravierende Abweichungen wie die Passage mit dem Lob Marie de Gournays. Sie schienen zu belegen, dass Gournay letztlich doch keine so sorgfältige Herausgeberin gewesen war; bestenfalls war sie inkompetent gewesen, schlimmstenfalls hatte sie absichtlich getäuscht. Es folgten vehemente Vorwürfe gegen Gournay, und im frühen 20. Jahrhundert begannen Herausgeberkriege, die – mit kurzer Unterbrechung – bis heute andauern.
Der Kampf folgte den klassischen Regeln der Kriegführung mit Belagerungen strategisch wichtiger Festungen und der Sicherung von Nachschubwegen. Heerscharen von Transkribenten und Herausgebern stürmten das Bordeaux-Exemplar, schauten sich gegenseitig über die Schulter und taten alles, um dem anderen den Zugang zum Objekt ihrer Begierde zu versperren. Jeder von ihnen entwickelte seine eigene Technik, die verblasste Tinte zu entziffern, die einander überlagernden Schichten der Einschübe und die Notate in den verschiedenen Handschriften kenntlich zu machen. Einige verzettelten sich derart in der Methodologie, dass sie nicht sehr weit vorankamen. Einer der ersten Transkribenten, der sous-bibliothécaire Albert Cagnieul, erklärte seinen Vorgesetzten in Bordeaux, warum er
Weitere Kostenlose Bücher