Wie soll ich leben?
Einführung in Montaignes Werk, sie ist eines der frühesten und eloquentesten feministischen Traktate überhaupt.
Als Einführung in das Werk eines Autors, der nicht gerade dafür bekannt war, dass er für die Frauen Partei ergriff, mag dies merkwürdig erscheinen. Aber Gournays Feminismus ist von ihrem «Montaignismus» nicht zu trennen. Ihre Überzeugung von der Gleichheit von Mann und Frau – die auch durch die unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensumstände nicht aufgehoben werde – entsprach seinem Relativismus. Sie ließ sich davon inspirieren, dass er soziale Konventionen in Frage stellte, dass er zwischen verschiedenen Standpunkten hin und her sprang. Wenn die Männer ihre Phantasie dazu nutzen würden, die Welt wie eine Frau zu sehen, und sei es nur für ein paar kurze Augenblicke, würden sie ihr Verhalten grundlegend ändern, davon war Marie de Gournay überzeugt. Doch genau diesen Perspektivwechsel brachten sie offenkundig nicht zustande.
Kurz nach der Veröffentlichung ihrer Ausgabe der Essais dachte sie dann doch noch einmal über ihre mehr als temperamentvolle Vorrede nach. Zu diesem Zeitpunkt war sie auf Montaignes Anwesen: als Gast von Montaignes Witwe, Mutter und Tochter, die sie aus Freundschaft, Loyalität oder Sympathie in ihren Kreis aufgenommen hatten. Von dort schrieb sie am 2. Mai 1596 an Lipsius, sie habe die Vorrede vonTrauer überwältigt geschrieben und wolle sie jetzt zurückziehen. Der übersteigerte Ton sei das Ergebnis eines «heftigen Seelenfiebers» gewesen. Kurze Zeit später sandte sie korrigierte Exemplare der Essais an potentielle Verleger in Basel, Straßburg und Antwerpen, in denen sie das lange durch ein zehnzeiliges neues, nichtssagendes Vorwort ersetzt hatte. Das Original blieb einstweilen in ihrer untersten Schublade, Teile davon tauchten in veränderter Form in einer Ausgabe des Proumenoir von 1599 wieder auf. Noch später bereute sie, dass sie bereut hatte: Die letzten Ausgaben der Essais zu ihren Lebzeiten enthalten die ursprüngliche Vorrede in all ihrem herrlichen Überschwang.
Alle diese Ausgaben der Essais , dazu eine Reihe wenig bedeutender und oft eher polemischer Arbeiten beschäftigten Marie de Gournay bis ins hohe Alter. Sie hatte es letztlich doch geschafft, vom Schreiben zu leben. Inzwischen war sie wieder in Paris und bewohnte mit ihrer treuen Bediensteten Nicole Jamyn ein Dachgeschoss. Sie führte einen unregelmäßigen Salon und schloss Freundschaft mit einigen der interessantesten Männer ihrer Zeit, darunter Libertins wie François le Poulchre de la Motte-Messemé und François de La Mothe le Vayer. Viele verdächtigten sie, selbst eine libertine und eine religiöse Freidenkerin zu sein. Tatsächlich bekannte sie in ihrer autobiographischen Peincture de mœurs , ihr fehle die tiefe Frömmigkeit, nach der sie sich sehne: vielleicht ein Hinweis auf ihre Glaubenszweifel.
Gournays Bücher wurden gelesen, verkaufsfördernd jedoch waren vor allem der Skandal und der öffentliche Spott, den sie auf sich zog. Im Fokus standen dabei nie die Essais , jedenfalls nicht zu ihren Lebzeiten; auch nicht ihre feministischen Schriften. Verspottet wurden vor allem ihr unorthodoxer Lebenswandel und ihre weniger bedeutsamen polemischen Schriften. Bisweilen brachte man ihr zähneknirschend Respekt entgegen. Im Jahr 1634 zählte sie sogar zu den Gründungsmitgliedern der bald schon sehr einflussreichen Académie Française; dennoch wurde sie als Frau zu keiner Versammlung dieser illustren Runde zugelassen, die jahrhundertelang genau jenen trockenen, perfektionistischen Schreibstil propagierte, den sie verachtet hatte. Weder ihre Ansichten über die Sprache der Literatur noch ihr geliebter Montaigne fanden dort Unterstützung.
Marie de Gournay starb am 13. Juli 1645 kurz vor ihrem achtzigstenGeburtstag. Ihre Grabinschrift (die ihr gefallen hätte) wies sie als eine unabhängige Schriftstellerin und als Montaignes Tochter aus. Wie bei Montaigne war auch ihre Rezeption wechselnden Moden unterworfen und nahm bizarre Formen an. Der von ihr gepflegte überschwängliche Stil blieb lange Zeit verpönt. Ein Kommentator des 18. Jahrhunderts urteilte: «Nichts ist den Lobsprüchen gleich, welche sie in ihrem Leben erhalten […]. Man hat aber alle diese Lobeserhebungen nachher gar sehr verringert: ihre Werke werden von niemandem gelesen und sind in eine Vergessenheit gefallen, daraus sie sich nimmermehr wieder erholen werden, so große persönliche Verdienste sie auch gehabt
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