Wie soll ich leben?
und logisch aufgebaut, aber mit viel Emotion gewürzt. Denen, die seinen Stil als vulgärsprachlich oder unrein betrachteten, hielt sie entgegen: «Wenn ich ihn gegen solche Angriffe verteidige, bin ich voller Verachtung.» Und zu dem Vorwurf, er habe konfus geschrieben, meinte sie: «Man kann große Dinge nicht nach Maßgabe eines kleinen Verstandes behandeln […]. Hier ist nicht das Grundwissen eines Lehrlings, sondern der Koran der Meister, die Quintessenz der Philosophie.»
Auch halbherziges Lob der Essais stellte sie nicht zufrieden. «Wer den Scipio einen edelmütigen General und Sokrates einen Weisen nennt, tut ihnen größeres Unrecht an, als der, welcher von ihnen schweigt.» Man könne über Montaigne nicht in gemäßigtem Ton sprechen: Er sei «über alles Maß erhaben». (So viel zu Montaignes Idee der Mäßigung.) Man müsse «hingerissen» sein, so wie sie. Andererseits sollte man in der Lage sein, diese Hingerissenheit zu begründen. Man müsse Montaigne Punkt für Punkt mit den antiken Autoren vergleichen und den Nachweis führen, wo er ihnen ebenbürtig und wo überlegensei. Für Marie de Gournay waren die Essais ein idealer Intelligenztest. Die Antwort ihrer Gesprächspartner auf die Frage, was sie über das Buch dächten, bildete für sie die Grundlage der Bewertung ihres Gegenübers. Diderot äußerte sich später ähnlich: Montaignes Buch sei «der Prüfstein für einen gesunden Geist. Wenn es jemandem missfällt, kann man sicher sein, dass er einen Fehler des Herzens oder des Verstandes hat.»
Marie de Gournay jedoch hatte das Recht, von ihren Lesern viel zu erwarten, war sie doch selbst eine hervorragende Leserin Montaignes. Trotz ihrer Maßlosigkeit besaß sie ein sicheres Gespür dafür, warum dieses Buch einen Platz unter den klassischen Autoren verdient hatte. In einer Zeit, da die Essais vielfach als eine Sammlung stoischer Sprüche betrachtet wurden – eine so weit legitime Interpretation –, bewunderte sie Montaignes Stil, seine Weitschweifigkeit, seine Bereitschaft, alles von sich offenzulegen. Gournay hatte das Gefühl, alle anderen verkannten den entscheidenden Aspekt jenes die Zeiten überdauernden Mythos Montaigne, eines Schriftstellers, der zur falschen Zeit geboren worden war und auf Leser warten musste, die seinen wahren Wert erkannten. Aus dem Autor, der populär geworden war, ohne dass er sich dafür besonders angestrengt hätte, machte sie ein missverstandenes Genie.
Gournay störte es nicht, in Montaignes Schatten zu stehen: «Ich kann keinen Schritt tun, sei es schreibend oder sprechend, ohne mich in seinen Fußstapfen zu finden.» In Wirklichkeit kommt ihre eigene Persönlichkeit stets klar und deutlich zum Vorschein, oft als krasser Gegensatz zu seiner. Wenn sie Montaignes Tugenden preist, seine Mäßigung zum Beispiel, dann auf maßlos übertriebene Weise. Wenn sie für den stoischen Gleichmut und eine ruhige Lebensführung plädiert, dann emotional und schrill. Und damit wird ihre Edition zu einem spannenden Ringkampf zwischen zwei Schriftstellern, ähnlich wie zwischen Montaigne und Florio oder zwischen Montaigne und La Boétie in den ersten Versuchen jener Konversation, die die Essais sind.
In verschiedener Hinsicht war es eine literarische Partnerschaft derselben Art, allerdings kompliziert durch die Tatsache, dass Marie de Gournay eine Frau war. Es ärgerte sie, dass diese Partnerschaft nie so ernst genommen wurde wie andere, ähnliche Beziehungen – und sieselbst auch nicht. Ihr Leben lang begegnete man ihr mit Spott und Häme, die sie nie auf die leichte Schulter nehmen konnte. Sie schäumte vor Wut, die auch in ihrer Vorrede zu den Essais zum Ausdruck kommt. Bisweilen hat man das Gefühl, sie packe ihre männlichen Leser buchstäblich am Kragen und schimpfe sie aus. «Glücklich bist du, Leser, wenn du nicht jenem Geschlecht angehörst, dem man alle Güter verwehrt, jegliche Freiheit, ja sogar jegliche Tugend.» Den törichtesten Männern höre man respektvoll zu, nur weil sie einen Bart tragen, wenn jedoch eine Frau es wagt, sich zu äußern, lächle man nur herablassend, als wollte man sagen: «Hier spricht eine Frau.» Hätte man Montaigne so behandelt, hätte er womöglich gleichfalls nur gelächelt, Marie de Gournay aber verfügte nicht über diese Gabe der Gelassenheit. Und je deutlicher sie ihre Wut zeigte, desto mehr wurde sie verlacht. Doch genau dieses Gequälte macht ihre Faszination aus. Ihre Vorrede ist nicht nur die früheste veröffentlichte
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