Wie soll ich leben?
Ende der Geschichte sein. Man wird weiterstreiten, und sei es um die Kommasetzung, schwerlich aber wird man an der Hybris eines Strowski festhalten können, irgendwann werde es eine perfekte, definitive Ausgabe geben. Die Essais werden nie zu einem endgültigen Abschluss kommen. Auch wenn der Mensch Montaigne seine Stiefel an den Nagel gehängt und seine Feder aus der Hand gelegt hat: Solange Leser und Herausgeber über das streiten, was er schrieb, hat der Autor Montaigne nicht den letzten Punkt aufs Papier gesetzt.
Montaigne remixed und embabouyné
Montaigne wusste genau, dass der Autor in dem Augenblick, da sein Buch veröffentlicht ist, die Kontrolle darüber verliert. Andere können damit machen, was sie wollen. Sie können es in einer Form herausbringen oder in einer Weise interpretieren, von der der Autor nie zu träumen gewagt hätte. Selbst ein unveröffentlichtes Manuskript kann außer Kontrolle geraten, wie es im Fall von La Boéties Abhandlung Von der freiwilligen Knechtschaft geschah.
Da es zu Lebzeiten Montaignes und La Boéties noch kein Urheberrecht gab und das Abschreiben als literarische Technik hoch im Kurs stand, hatte man sehr viel mehr Freiheiten als heute. Jeder konnte nach Lust und Laune Teile der Essais herausnehmen und separat veröffentlichen. Er konnte kürzen oder erweitern, unliebsame Passagen streichen, die Kapitel in eine neue Reihenfolge bringen oder unter einem anderen Namen publizieren. Ein oder mehrere Kapitel konnten herausgelöstund in einem schmalen, handlichen Band veröffentlicht werden – für Leser, deren Bizeps zu schwach war, das ganze Werk zu stemmen. Man konnte eine Entrümpelungsfirma engagieren: Eine furchtlose Bearbeiterin wie Honoria war in der Lage, ein zwanzigseitiges zielloses Geplauder Montaignes auf zwei Seiten zusammenzustreichen, die – ganz unmontaignisch – das im Titel angekündigte Thema behandelten.
Einige Herausgeber griffen noch tiefer in den Text ein. Statt eine Auswahl zusammenzustellen, haben sie die Ärmel hochgekrempelt und die Essais ausgeweidet wie eine Weihnachtsgans, um etwas völlig Neues zu schaffen. Der wichtigste von ihnen ist zugleich der früheste und bekannteste: Montaignes Freund und Zeitgenosse Pierre Charron, dem mit seiner Abhandlung De la Sagesse (Von der Weisheit) ein Bestseller des 17. Jahrhunderts gelang. Montaigne hätte sich kaum wiedererkannt, doch es sind im Wesentlichen die Essais unter einem anderen Titel und in einem anderen Format. Man sprach von einem «Remake», und man könnte es auch als «Remix» bezeichnen, doch keiner der beiden Begriffe beschreibt genau, wie sehr sich dieses Werk vom Geist des Originals entfernt hat. Charron schuf einen Montaigne ohne Idiosynkrasien, ohne Zitate und Abschweifungen, ohne Ecken und Kanten oder persönliche Enthüllungen irgendwelcher Art. Er gab den Lesern etwas, dem sie widersprechen oder mit dem sie einverstanden sein konnten: Feststellungen, die sich nicht länger der Interpretation entzogen oder sich auflösten wie Nebelschwaden. Aus Montaignes ungeordneten Gedanken über die Beziehung zwischen Mensch und Tier extrahierte Charron den folgenden, sauber gegliederten Aufbau:
Merkmale, die Tiere und Menschen gemeinsam haben
Merkmale, die Tiere und Menschen nicht gemeinsam haben
Merkmale, die den Menschen zum Vorteil gereichen
Merkmale, die den Tieren zum Vorteil gereichen
Allgemeine
Besondere
Merkmale von umstrittenem Vorteil
Das ist eindrucksvoll – und langweilig, so langweilig, dass De la Sagesse immensen Erfolg hatte. Dadurch ermuntert, brachte Charron einenkomprimierten Petit traité de la sagesse heraus, der sich gleichfalls gut verkaufte. Im Laufe des 17. Jahrhunderts begegneten immer mehr Leser Montaigne in der von Charron zurechtgestutzten Form, weshalb sie in der Lage waren, seinen pyrrhonischen Skeptizismus zu verstehen und gedanklich nachzuvollziehen. (Wenn Pascal ihn dennoch empörend schwer fassbar fand, dann deshalb, weil er das Original las.) Marie de Gournay allerdings missbilligte Charrons Verfahrensweise. In der Vorrede zu ihrer Ausgabe der Essais von 1635 nennt sie ihn einen «schlechten Abschreiber» und fügt hinzu, der einzige Grund, warum man ihn lesen sollte, sei, dass er einem das Genie des echten Montaigne in Erinnerung rufe.
Charrons Nachfolger im 17. und 18. Jahrhundert präsentierten einen erneuten Remix Montaignes, und manchmal remixten sie auch Charron. Solange die Essais auf dem Index standen, waren Remixes und Remakes die einzige Form, in
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