Wie soll ich leben?
als Vorlage benutzt und transkribiert, dabei jedoch ein Durcheinander angerichtet hatte.
Doch bereits im Jahr 1866 hatte Reinhold Dezeimeris eine andere Erklärung vorgetragen. Gournay, so behauptete er, habe als Herausgeberin exzellente Arbeit geleistet, allerdings mit einer anderen Vorlage. Es dauerte eine Weile, bis diese These in die Köpfe einsickerte. Doch dann fand sie immer mehr Anhänger, die im Detail zu erklären suchten, wie dies vor sich gegangen sein konnte.
Vielleicht hatte Montaigne ein paar Jahre lang mit dem Bordeaux-Exemplar gearbeitet, bis die Seiten so dicht mit Anmerkungen gefüllt waren, dass kein Platz mehr blieb und er in einem sauberen Exemplar weiterschrieb. Dieser annotierte Band existierte zwar nicht mehr, wurde der Einfachheit halber jetzt aber als das «Exemplar» bezeichnet. Darin trug er weitere, vor allem geringfügige Änderungen ein, denn er war inzwischen fast am Ende seines Lebens angelangt. Nach seinem Tod sei dann dieses Handexemplar – und nicht das Bordeaux-Exemplar – an Marie de Gournay geschickt worden, die es edierte und in Druck gab. Das würde erklären, warum der Band nicht mehr existiert: Autorenmanuskripte oder mit Anmerkungen versehene Handexemplare wurden im Zuge der Drucklegung in der Regel vernichtet. Das nicht ausgewertete Bordeaux-Exemplar dagegen blieb erhalten wie ein Kokon, der am Baum hängen bleibt, nachdem die Zikade geschlüpft ist.
Eine These, die sowohl das Überleben des Bordeaux-Exemplars alsauch die textlichen Divergenzen plausibel erklärt. Sie passt auch zu dem, was über Marie de Gournays herausgeberische Tätigkeit bekannt ist: Es wäre merkwürdig gewesen, wenn sie bei der Korrektur der Druckfahnen so penibel, bei ihrer eigentlichen editorischen Arbeit aber so nachlässig gewesen wäre. Falls diese These stimmt, wären die Folgen dramatisch, denn dann käme ihre Edition von 1595 und nicht das Bordeaux-Exemplar der endgültigen Version der Essais am nächsten, wie sie Montaigne vorgeschwebt hatte – und damit wären die editorischen Bemühungen großer Teile des 20. Jahrhunderts nur ein irrlichternder Punkt auf dem Radarschirm der Geschichte.
Selbstverständlich versetzte diese Debatte die Montaigne-Forschung in hellen Aufruhr, und es entzündete sich ein hitziger Streit. Einige Herausgeber ruderten zurück und stellten die bisherige Hierarchie auf den Kopf, indem sie die Varianten des Bordeaux-Exemplars in den Anmerkungsapparat verbannten – ein Platz, mit dem sich Marie de Gournays Ausgabe so lange hatte begnügen müssen. So verfährt zum Beispiel die Pléiade-Ausgabe von 2007, herausgegeben von Jean Balsamo, Michel Magnien und Catherine Magnien-Simonin. Andere Wissenschaftler halten weiterhin am Bordeaux-Exemplar als maßgeblich fest, so beispielsweise André Tournon in der von ihm 1998 verantworteten Ausgabe, die frühere Editionen in ihrer mikroskopischen Texttreue übertrifft. Sie gibt Montaignes Zeichensetzung und Markierungen, die zuvor bereinigt oder modernisiert wurden, getreu wieder, gleichsam um die physische Nähe zu Montaignes Handschrift und zu seinen Absichten zu bekunden: als hielte er die noch nasse Feder in der Hand.
Wenn sich der Staub gelegt hat, wird eine für das neue Jahrhundert maßgebliche Ausgabe erscheinen – mit Konsequenzen für alle Montaigne-Leser. Neue Editionen werden dem einen oder dem anderen Text den Vorzug geben und nicht beide heranziehen und amalgamieren, da ja die Bedeutung der Varianten jetzt so genau bemessen werden kann. Falls Gournay «gewinnt», könnte eine Druckseite der Essais sehr viel einfacher aussehen, weil man womöglich darauf verzichten wird, die verschiedenen Textstufen durch die Buchstaben A, B und C zu kennzeichnen. Die Textvarianten sind zwar nach wie vor interessant, aber sie wurden von den Herausgebern eingefügt, die das Bordeaux-Exemplar als Grundlage nahmen und ihre mühevolle Editionstätigkeitauch visuell dokumentiert sehen wollten. Gournay selbst hatte nie an so etwas gedacht, auch Montaigne nicht. Für nichtfranzösische Montaigne-Leser wird eine Neuedition ebenfalls Konsequenzen haben. Es werden Neuübersetzungen notwendig werden, auch englische, da die beiden ausgezeichneten Übersetzungen von Donald Frame und Michael A. Screech, die derzeit auf dem Markt sind, sich an dem Bordeaux-Exemplar orientieren. Wir würden auf den Quellentext zurückgehen, den John Florio, Charles Cotton und die Hazlitt-Dynastie ihren Ausgaben zugrunde legten.
Doch auch das wird nicht das
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