Wie soll ich leben?
Bedeutungsschichten freizulegen. Montaigne hatte nicht die Absicht, geheime Bedeutungen in seinem Werk zu verstecken, aber das spielt keine Rolle, da der Text seinen eigenen Weg geht.
Aus diesem Grundverständnis heraus entstehen Interpretationen so barock wie Montaignes eigene Texte. Ein besonders schönes Beispiel bietet Tom Conley, der in «A suckling of cities: Montaigne in Paris and Rome» eine beiläufige Bemerkung Montaignes in seinem Essai «Über die Eitelkeit» herausgreift: Er habe, heißt es da, von Rom früher gewusst als vom Louvre in Paris, dem damaligen Palast der französischen Könige. Das Wort «Louvre» hat einen ähnlichen Klang wie das französische louve , «die Wölfin». Conley entdeckt hier einen unbewussten Zusammenhang mit der Wölfin, die die Zwillinge Romulus und Remus säugte, die sagenhaften Gründer der Stadt Rom. Sie öffneten ihren Mund, um die Milch der Wölfin zu trinken. In gleicher Weise, so Conley, öffnen wir unseren Blick für Städte wie Rom oder Paris, indem wir über ihr Schicksal im Laufe der Jahrhunderte nachdenken. Der Mund ist es, der diese Perspektive eröffnet. Er öffnet sie , auf Französisch l’ouvre . Wenn also Montaigne den Louvre in einem Atemzug mit Rom nennt, so verstecke sich hier ein geheimes Bild, in dem «sich die Lippen des Essayisten um eine königliche Brustwarze schließen».
Das Bild des Saugens und Säugens führt zu den Brüsten, die in Form der vielen Kuppeln und Belvederes in Rom überall präsent sind: «erogene Spitzen» der Stadtsilhouette, «die sich zu einem Ensemble von Versorgungsstationen zusammenfügen». Das Bild von Montaignes Lippen wird immer skurriler:
Montaigne saugt von oben an der erigierten Spitze des Jupitertempels auf dem Kapitolshügel in Rom, während sich seine Lippen von unten um die Brustwarzen der Wölfin schließen.
Das alles liest Conley aus Montaignes Bemerkung über den Louvre heraus, aber es geht noch weiter. Im selben Essai fährt Montaigne fort: «Lebensumstände und Geschicke des Lucullus, des Metellus und des Scipio hatte ich besser im Kopf [ plus en teste ] als die irgendeines Franzosen.» So unauffällig dieser Satz auch klingt, tester oder têter bedeutet so viel wie «saugen», «gestillt werden». Diese drei antiken Helden stellt sich Conley als Porträts vor, etwa auf Münzen, die sich Montaigne in den Mund steckt: «qu’il teste» . Die Seiten dieses Essai durchzieht in den Augen Conleys ein großes «Saugen und Fließen von Raum und Zeit».
Mehr noch: Montaigne schreibt in diesem Essai , er sei von der römischen Geschichte von Kindesbeinen an fasziniert gewesen: embabouyné , was so viel bedeutet wie «verzaubert», «behext», aber auch «gesäugt». Man kann es im Französischen aber auch lesen als «en bas bou(e) y n(ais)» , «ich bin im Schlamm geboren», erneut eine Anspielung auf die beiden Säuglinge, die sich in den Schlamm des Tibers hinunterbeugen mussten, um an den Zitzen der Wölfin zu saugen. Schlamm ist matschig und braun, und deshalb kann man sich Montaigne, der embabouyné ist, als jemanden denken, der in eine «präsymbolische Welt aus Aromen und Exkrementen» hinabsteigt.
Conleys Aufsatz ist selbst behexend und verzaubernd; er spielt nicht einfach nur mit Worten, wie Romulus und Remus spielen, wenn sie einander mit Tiberschlamm bewerfen. Er will auch nicht behaupten, Montaigne hätte beim Schreiben über Rom tatsächlich Brustwarzen im Kopf gehabt. Es geht ihm vielmehr um dieses assoziative Geflecht. Er will in den scheinbar klaren und einfachen Worten des Textes eine verborgene Bedeutung aufspüren, in der sich die Atmosphäre eines Traums widerspiegelt und die ganz neue Perspektiven eröffnet. Conleys Deutung gewinnt so eine eigene träumerische Schönheit, und es besteht kein Grund, sich zu empören, dass kaum ein Bezug zu Montaigne vorhanden ist. Hier trifft vielmehr auf die Essais zu, was Montaigne über Plutarch sagt: Jede Zeile eines so reichen Textes ist vollerFingerzeige, denen wir, wenn wir wollen, folgen können. Moderne Kritiker haben sich das sehr zu Herzen genommen.
Der eigentliche Patient auf der Analytikercouch, dessen Träume nach einer Deutung geradezu schreien, ist nicht der Text der Essais , auch nicht deren Autor, sondern der Kritiker. Indem diese Detektive der Literatur Montaignes Text als einen Hort versteckter Hinweise betrachten und diese Hinweise von ihrem ursprünglichen Zusammenhang trennen, bedienen sie sich einer gängigen Technik zur
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