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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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Erschließung des Unterbewussten. Dieselbe Technik wendet eine Wahrsagerin an, wenn sie aus dem Kaffeesatz die Zukunft liest, oder ein Psychologe, der über einem Rorschach-Test brütet: Eine zufällige Konstellation von Zeichen wird aus ihrem gegebenen Kontext herausgelöst, und dann braucht man nur noch abzuwarten, was der Beobachter darin sieht. Das Ergebnis ist – notgedrungen – mindestens ebenso wunderlich wie der Esprit des Essais de Montaigne .
    Bedauerlich für jeden, der an derlei Geschmack findet, scheint dieser Trend der modernen Literaturkritik inzwischen schon wieder passé zu sein. In den letzten Jahren zeichnet sich eine Gegenreaktion ab, ein langsamer Umschwung. Immer mehr Literaturwissenschaftler kehren zu einer historisch-kritischen Betrachtungsweise zurück. Sie beschäftigen sich wieder ganz nüchtern mit den Bedeutungen von Montaignes Sprache im Kontext des 16. Jahrhunderts und versuchen, seinen Absichten und Motiven auf die Spur zu kommen.
    Was hätte Montaigne zu all dem gesagt? Er folgte gern Plutarchs Fingerzeigen, doch von zu viel Interpretation war er genervt. Je mehr sich ein Kritiker mit einem Text beschäftige, sagte er, desto unverständlicher werde dieser Text. «Der hundertste Kommentator reicht es ja strotzend von noch heikleren Schwierigkeiten, als der erste sie vorgefunden hatte, an den hundertundersten weiter.» Man könne jeden Text zu einem Gewirr aus Widersprüchen machen:
    Seht euch doch an, wie man Platon hin und her zerrt und mit ihm umspringt! Jeder rechnet es sich zur Ehre an, ihn auf seine Seite zu ziehn; man nimmt ihn ans Gängelband und macht ihn zum Parteigänger für all die neuen Auffassungen, denen sich die Welt verschreibt.
    Wird jemals eine Zeit kommen, fragte Montaigne, in der sich die Interpreten zusammensetzen und sich über ein Werk einig werden: «Schluss nun – über dieses Buch gibt es nichts mehr zu sagen»? Natürlich nicht. Und Montaigne wusste, dass auch sein Werk von Interpreten zerpflückt werden würde, solange es Leser fand. Diese Leser würden immer etwas in ihm aufspüren, was er gar nicht zu sagen beabsichtigt hatte. «So entdeckt zum Beispiel ein kundiger Leser in manchen Schriften noch ganz andere Vollkommenheiten als jene, die der Verfasser hineingelegt oder auch nur bemerkt hat, und gewinnt auf solche Weise dessen Werk viel reichhaltigere Aspekte und Bedeutungen ab.»
    Ich habe im Titus Livius hundert Dinge gelesen, die ein andrer nicht darin gelesen hat. Plutarch wiederum las darin hundert mehr als ich, und vielleicht sogar mehr, als der Autor selbst hineinlegte.
    Durch diese Interpretationen und Neuinterpretationen entsteht im Laufe der Jahrhunderte eine lange Kette, und sie verbindet einen Schriftsteller mit allen seinen Lesern, die häufig nicht nur das Original, sondern auch einander lesen. Virginia Woolf hatte die Vision einer Abfolge von Generationen, die auf diese Weise miteinander verbunden sind: wie «ein Geist mit einem anderen verknüpft ist – wie jeder lebende Geist von demselben Stoff ist wie der von Platon & Euripides […]. Dieser gemeinsame Geist verbindet die ganze Welt; & die ganze Welt ist Geist.» Diese Fähigkeit, in der inneren Welt der Leser über lange geschichtliche Zeiträume hinweg weiterzuleben, macht ein Werk wie die Essais zu einem echten Klassiker. In jedem Geist wird es auf andere Weise wiedergeboren und verbindet ihn zugleich mit anderen Geistern.
    Es kann kein wirklich ambitioniertes Schreiben geben, wenn man nicht anzuerkennen lernt, dass andere mit einem Werk tun, was ihnen beliebt, und es fast bis zur Unkenntlichkeit verändern. Montaigne akzeptierte diese Tatsache, in der Kunst wie im Leben, er hatte sogar seine Freude daran. Die Menschen machen sich merkwürdige Vorstellungen von dem Autor, sie formen ihn nach ihren eigenen Bedürfnissen. Wenn man sich ganz ohne Kontrollzwang einfach im Strom treiben lässt, wendet man den alten hellenistischen Trick des amor fati an:die fröhliche Bejahung dessen, was geschieht. Für Montaigne war amor fati eine Antwort auf die Grundfrage, wie man leben soll, und sie ebnete ihm auch den Weg zu literarischer Unsterblichkeit: Es traf sich gut, dass sein Werk so unvollkommen, uneindeutig, unzureichend und für Verzerrungen anfällig war. Man kann Montaigne geradezu ausrufen hören: «Ich möchte bitte missverstanden werden.»

19
Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Sei gewöhnlich und unvollkommen!
Sei gewöhnlich!
    Dieses Buch erzählt nicht zuletzt davon, wie

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