Wie soll ich leben?
Angelegenheit, die mit glanz- und ruhmvollen Siegen auf dem Schlachtfeldsehr viel weniger zu tun hatte als mit Kälte, Fieber, Hunger, Krankheit und infektiösen Stich- und Schussverletzungen, für die es kaum eine wirksame Behandlung gab. Vor allem aber bestanden diese Kriege aus endlosen Belagerungen, bei denen Soldaten und Zivilisten ausgehungert und damit zur Kapitulation gezwungen wurden. Vielleicht nahm Pierre an der Belagerung Mailands und Pavias im Jahr 1522 teil, vielleicht auch an der verheerenden Belagerung Pavias im Jahr 1525, wo viele französische Soldaten hingemetzelt und der französische König gefangen genommen wurde. Später beglückte Pierre seine Angehörigen mit schauerlichen Geschichten von seinen Kriegserlebnissen, darunter Schilderungen von Dörfern, deren komplette Einwohnerschaft ausgehungert wurde und aus Verzweiflung Selbstmord beging. Wenn Montaigne lieber die Feder führte als das Schwert, so lag hier vielleicht der Grund dafür.
Die Kriege in Oberitalien mögen unerquicklich gewesen sein, in kultureller Hinsicht waren sie für die Franzosen durchaus nutzbringend. In den Zeiten zwischen den Belagerungen lernten sie neue und aufregende wissenschaftliche, politische, philosophische und pädagogische Ideen, Sitten und Gebräuche kennen. Die italienische Hochrenaissance war zu Ende, doch Italien repräsentierte nach wie vor die weitaus fortschrittlichste Kultur Europas. Französische Soldaten wurden mit innovativen Ideen in fast allen Bereichen vertraut und brachten ihre Erkenntnisse und Entdeckungen nach Hause zurück. Pierre zählte ganz gewiss zu diesen neuen italianisierten französischen Adligen, die unter dem Eindruck ihrer Reisen und dem Einfluss ihres charismatischen, für modernes Gedankengut aufgeschlossenen Königs Franz I. standen. Nachfolgende Könige gaben die Ideale der Renaissance auf, die Franz I. hochgehalten hatte, und in den Bürgerkriegen ging der Zukunftsglaube vollends verloren. Doch in Pierres Jugend lag diese Desillusionierung noch weit entfernt, die Ideale waren immer noch aufregend neu.
Abgesehen von seiner soldatischen Grundeinstellung war Pierre seinem Sohn sehr ähnlich. Montaigne beschreibt ihn als einen «kleinwüchsigen Mann, höchst kraftvoll und von aufrechter, wohlgeformter Statur» mit «angenehmen Gesichtszügen, ins Bräunliche gehendem Teint». Er war körperlich fit und hielt sich gelenkig, trainierte seineMuskeln mit Stäben, die mit Blei ausgegossen waren, und trug bleibesohlte Schuhe, um seine Beine beim Laufen und Springen zu kräftigen. Dies war eine besondere Begabung seines Vaters. «Im Hochsprung aus dem Stand vollbrachte er, wie sich die Leute noch erinnern, kleine Wunder», schrieb Montaigne. «Ich sah ihn, wie er, unsere Gelenkigkeitsübungen belächelnd, mit mehr als sechzig Jahren im Pelzmantel aufs Pferd sprang oder, nur vom Daumen gestützt, sich überm Tisch drehte – und kaum je in sein Zimmer hinaufeilte, ohne voller Elan drei, vier Stufen auf einmal zu nehmen.»
Sein Vater verfügte noch über andere Qualitäten, die für die Generation Montaignes nicht mehr typisch waren. Er achtete auf untadeliges Aussehen und Kleidung und war «durchgängig von skrupulöser, fast zur Übertreibung neigender Gewissenhaftigkeit». Seine sportliche Begabung und sein galantes Auftreten machten ihn beim weiblichen Geschlecht beliebt. Montaigne beschreibt ihn als einen, der «für den Umgang mit den Damen von Natur aus wie durch seine Lebenskunst die besten Voraussetzungen mitbrachte». Wahrscheinlich sprang er über Tische, um die weibliche Gesellschaft zu unterhalten. Was sexuelle Eskapaden betrifft, so übermittelte Pierre seinem Sohn widersprüchliche Botschaften. Einerseits erzählte er «von erstaunlich intimen, doch über jeden Verdacht erhabnen (und namentlich den eignen) Beziehungen zu ehrbaren Damen». Andererseits schwur er «heilige Eide, dass er selber unberührt in den Ehestand getreten sei». Montaigne schien dies nicht zu glauben, da der Vater «lange Zeit Teilnehmer an den Kriegen jenseits der Alpen» gewesen sei.
Nach seiner Rückkehr aus Italien und seiner Heirat begann Pierre eine politische Karriere in Bordeaux. 1530 wurde er zum Schöffen (jurat) und zum Chef des Ordnungswesens (prévôt) gewählt, 1537 wurde er Vizebürgermeister und 1554 schließlich Bürgermeister. Es waren schwierige Zeiten für Bordeaux: Die Einführung einer neuen Salzsteuer 1548 beschwor einen Aufstand herauf, den «Frankreich» dadurch bestrafte,
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