Wie soll ich leben?
hatte eine außergewöhnlich hohe Meinung von seiner Frau – was erstaunlich wäre in einer Zeit, da man Frauen kaum eines vernünftigen Gedankens für fähig hielt.
Das zweite Testament vom 22. September 1567 bewies mehr Vertrauen in seinen Sohn. Jetzt schien Pierre die Notwendigkeit verspürt zu haben, mit Hilfe des geänderten Testaments seiner Frau die Liebe zu ihren Kindern beizubringen, seinen Kindern dagegen, ihre Mutter zu achten und zu ehren. Offensichtlich fürchtete er ein Zerwürfnis zwischen ihr und ihrem ältesten Sohn, denn er trug Michel auf, eine andere Bleibe für sie zu suchen, falls ein harmonisches Zusammenleben auf dem Familienanwesen nicht möglich wäre. Nach dem Tod ihres Mannes blieb Antoinette bis etwa 1587 bei ihrem Sohn und seiner Familie, doch das Verhältnis war nicht besonders gut. Ein Vertrag vom 31. August 1568 gestand Antoinette das Recht auf die «Ehrerbietung, den Respekt und die Dienste ihres Sohnes» zu sowie persönliche Bedienstete und jährlich hundert livres tournois für ihre Privatschatulle. Sie wiederum anerkannte seine Befehlsgewalt über das Schloss und das Landgut. Der Vertrag lässt darauf schließen, dass Antoinette sich schlecht versorgt fühlte und Montaigne sich gegen weitere Einmischungen seiner Mutter schützen wollte.
Doch es kam noch schlimmer. In ihrem eigenen Testament vom 19. April 1597, fünf Jahre nach dem Tod ihres Sohnes, hielt Antoinette ihren Wunsch fest, nicht auf dem Familienanwesen begraben zu werden, und sie enterbte praktisch Montaignes einziges Kind, die Tochter Léonor. Ihre eigene Mitgift, schrieb sie, hätte dazu verwendet werden sollen, weiteres Land zu kaufen; dies sei nicht geschehen. «Ich habe mit meinem Gemahl vierzig Jahre hindurch im Hause Montaigne geschafft, derart, dass durch meine Arbeit, Sorge und Haushalterei besagtes Haus höchlich an Wert und Gütern zugenommen hat», fügte sie hinzu. Ihr seliger Sohn Michel de Montaigne habe «friedlich die Vorteile genossen», ebenso Léonor, die so «reich und wohlhabend» geworden sei, dass sie nun nichts mehr benötige. Und schließlich verwies Antoinette noch darauf, dass sie in ihrem Alter «leicht zu umgehen» sei; sie war wohl umdie achtzig. Offensichtlich fürchtete sie, man werde das Testament wegen Senilität anfechten.
In Montaignes Essais finden sich häufig Eingeständnisse der eigenen Trägheit und Unfähigkeit, und es lässt sich leicht ersehen, warum Antoinette das Gefühl haben konnte, das Gut werde unter der Aufsicht ihres Sohnes vernachlässigt. Die praktischen Angelegenheiten des Lebens waren für ihn eine lästige Pflicht, der er sich so gut wie möglich zu entledigen suchte. Überraschend allerdings ist, dass sie dieselben Vorwürfe gegen ihren Ehemann erhob, von dem Montaigne in den Essais das Bild eines zupackenden und pflichtbewussten Mannes zeichnet, der rastlos bestrebt war, das Anwesen auszubauen und besser zu organisieren.
Pierre Eyquem de Montaigne war ganz dem Geist des 15. Jahrhunderts verhaftet, auch wenn er am 29. September 1495 geboren wurde. In nahezu jeder Hinsicht stand er der Welt seines Sohnes fern. Adliger Tradition folgend, widmete er sich, als Erster seiner Familie, dem Kriegshandwerk. Michel folgte ihm darin nicht: Als Adliger war er zwar verpflichtet, den Degen zu tragen, aber in den Essais findet sich kein Hinweis darauf, dass er ihn oft zückte. Brantôme, ein Zeitgenosse, schrieb, Montaigne habe ihn hinter sich «hergeschleift», womit er wohl sagen wollte, dass er besser daran getan hätte, seine Feder zur Hand zu nehmen und an seinen Essais weiterzuschreiben. Solcher Spott hätte seinen Vater Pierre nicht treffen können, der sich bei der erstbesten Gelegenheit den Italienfeldzügen Frankreichs anschloss.
Französische Truppen hatten seit 1494 immer wieder Staaten auf der italienischen Halbinsel angegriffen und erobert. Erst mit dem Frieden von Cateau-Cambrésis 1559 verzichtete Frankreich auf weitere kriegerische Auseinandersetzungen, ebnete damit jedoch den Weg in die eigentliche Katastrophe des 16. Jahrhunderts: die Bürgerkriege. Die italienischen Kriegsabenteuer richteten weniger Schaden an, aber sie waren kostspielig und sinnlos und für die Beteiligten traumatisierend. Pierre nahm etwa seit 1518 am Kampfgeschehen teil. Abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel ein Jahr später blieb er bis Anfang 1529 fern von zu Hause. Als er schließlich zurückkehrte, heiratete er.
Die Kriegführung im 16. Jahrhundert war eine chaotische
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