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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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zu großen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Als ein junges protestantisches Mitglied der Familie Eyquem extremistische Anwandlungen an den Tag legte, riet ihm La Boétie, sich zu mäßigen «aus Achtung vor dem guten Ruf, den Euer Haus durch eine ununterbrochene Eintracht erworben hat – ein Haus, das ich so teuer halte wie irgendein Haus in der Welt (mein Gott, welches Haus, aus dem nur die Handlung eines Biedermannes hervorgegangen ist!)».
    Diese bewundernswerte Sippe war weit verzweigt. Montaignehatte sieben Brüder und Schwestern, allesamt jünger als er, nicht mitgerechnet die beiden vor ihm geborenen, die früh starben. Der Altersunterschied zwischen den Geschwistern war beträchtlich. Er betrug beinahe eine ganze Generation, denn Montaigne war fast siebenundzwanzig Jahre alt, als sein jüngster Bruder Bertrand zur Welt kam.
    Soweit wir wissen, wurde keinem der anderen Geschwister so viel Aufmerksamkeit oder eine so außergewöhnliche Erziehung zuteil wie dem kleinen Micheau. Die Töchter erhielten wohl die für Frauen übliche Bildung, also so gut wie keine. Und selbst die anderen Söhne wurden, so scheint es, konventioneller erzogen. Das einzige Kind der Familie, dessen Erziehung gut dokumentiert ist, war Michel de Montaigne – und er wurde nicht einfach nur erzogen. Er war das Objekt eines beispiellosen pädagogischen Experiments.
    Es begann bereits direkt nach seiner Geburt, als Micheau zu einer einfachen Bauernfamilie ins Nachbardorf in Pflege gegeben wurde. Eine Bäuerin als Amme zu nehmen war damals nichts Ungewöhnliches, aber Montaignes Vater wollte, dass sein Sohn die Gepflogenheiten der einfachen Leute gleichsam mit der Muttermilch aufnahm, und deshalb wuchs Montaigne bei den Leuten auf, die der Hilfe eines seigneur am meisten bedurften. Statt dass die Amme zu dem Säugling kam, schickte sein Vater den Säugling zur Amme, wo er blieb, bis er der Muttermilch entwöhnt war. Er wurde auch von «Leuten des niedrigsten Standes» aus der Taufe gehoben. Von Anfang an hatte Montaigne das Gefühl, ein Bauernkind unter Bauern und gleichzeitig etwas ganz Besonderes zu sein. Dieses Gefühl verließ ihn sein Leben lang nicht mehr. Er hielt sich für einen ganz gewöhnlichen Menschen, und gerade das machte seine Außergewöhnlichkeit aus.
    Die Idee mit der bäuerlichen Pflegefamilie hatte jedoch einen Nachteil, den Pierre wahrscheinlich nicht bedacht hatte. Da sein Sohn unter fremden Leuten aufwuchs, konnte er, wie wir heute sagen, keine «Bindung» an seine Eltern entwickeln. Das galt in gewisser Weise für alle Kinder, die von einer Amme gestillt wurden, aber sie blieben in der Regel die meiste Zeit bei ihrer Mutter. Bei Montaigne war dies offenbar anders. Wenn wir von den entwicklungspsychologischen Ideen des 20. und 21. Jahrhunderts ausgehen (die sich vielleicht bald als fragwürdig erweisen werden: vielleicht ist die Mutter-Kind-Bindung ein ebensokurzlebiges, kulturell bedingtes Phänomen wie das Gestilltwerden durch eine Amme), so muss der mangelnde Kontakt zu den Eltern in den entscheidenden ersten Lebensmonaten Montaignes Beziehung zu seiner Mutter tiefgreifend geprägt haben. Montaignes eigener Einschätzung nach jedoch funktionierte der Plan perfekt, und er empfahl seinen Lesern, mit ihren Kindern möglichst dasselbe zu tun: «Überlasst es dem Schicksal, sie nach den natürlichen und landläufigen Gesetzen heranzubilden.»
    Wie alt auch immer er war, als er ins väterliche Schloss zurückkehrte – ein, zwei Jahre vielleicht –, er wurde seiner Pflegefamilie abrupt wieder entrissen, denn der zweite Teil seiner experimentellen Erziehung war das krasse Gegenteil des ersten. Der kleine, bäuerlich geprägte Micheau wurde von nun an in der lateinischen Sprache erzogen.
    Die Sprache, die er bei seinen Pflegeeltern gehört hatte, war der Dialekt des Périgord gewesen. Als er alt genug war, das Essen seiner Gastfamilie zu essen, war er auch alt genug, um sein Ohr an deren Sprache zu gewöhnen, wenngleich er sie noch nicht sprechen konnte. Jetzt musste er ins Lateinische wechseln, ohne den Zwischenschritt der Sprache, in der er später schreiben sollte: Französisch. Ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Experiment, das vor praktische Probleme stellte. Pierre selbst beherrschte die lateinische Sprache nur minimal, seine Frau und die Bediensteten gar nicht. Auch im näheren Umkreis gab es niemanden, der Latein wie seine Muttersprache beherrschte. Wie wollte Pierre es schaffen, seinem Sohn die Sprache

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