Wie soll ich leben?
Ordnung bringen zu lassen, dann gewiss mehr seinem Willen als meinem Wunsch zuliebe», schreibt er. Wie Nietzsche es sehr viel später formulierte: «Man muss den Fleiß seines Vaters nicht überbieten – das macht krank.» Montaigne unternahm diesen Versuch erst gar nicht und blieb gesund.
Auch wenn er sich in den praktischen Dingen des Lebens nicht bewandert fühlte, kannte er seine Stärken, wenn es um Literatur und Gelehrsamkeit ging. Pierres literarische Kenntnisse waren so beschränkt gewesen, wie seine Liebe zu Büchern grenzenlos war. NachMontaignes Ansicht war es typisch für die Generation seines Vaters, Bücher zu Kultobjekten zu stilisieren und gelehrte Männer «in seinem Haus wie Heilige» zu empfangen und «ihre Sentenzen und Darlegungen» aufzunehmen, «als wären es Orakelsprüche». Trotzdem bewies Pierre nur ein geringes kritisches Verständnis. Er konnte sich mit nur einem Daumen überm Tisch drehen, aber eine intellektuelle Leuchte war er nicht. Er verehrte Bücher, ohne sie zu verstehen. Sein Sohn bemühte sich lebenslang um das Gegenteil.
Montaigne sah in Pierres Bücherliebe zu Recht ein typisches Merkmal der Vätergeneration. Französische Adlige des frühen 16. Jahrhunderts begeisterten sich für die Gelehrsamkeit und für alles, was aus Italien kam. Dabei übersah der Sohn jedoch, dass er selbst typisch für seine Zeit war, wenn er den Fetisch der Buchgelehrsamkeit ablehnte. Die Väter stopften ihre Söhne mit Literatur und Geschichte voll, bildeten ihr kritisches Denken aus und brachten ihnen bei, mit den klassischen philosophischen Schulen wie mit Bällen zu jonglieren. Zum Dank verwarfen die Söhne all das als wertlos und dünkten sich überlegen. Einige versuchten sogar, eine ältere, der Gelehrsamkeit feindliche Tradition wiederzubeleben, als wäre es etwas radikal Neues.
In Montaignes Generation zeigten sich Ermüdung und Verdrießlichkeit, gleichzeitig aber eine rebellische neue Kreativität. Verständlich ist daher auch ein Hang zum Zynismus: Die Ideale, in deren Geist man sie erzogen hatte, hielten der grausamen Wirklichkeit nicht stand. Die Reformation, anfänglich als frischer Wind willkommen geheißen, der auch der römischen Kirche guttun würde, führte zu einem blutigen Krieg, der die zivilisierte Welt zu zerstören drohte. Ideale der Renaissance wie Schönheit und Anmut, Klarheit und Klugheit pervertierten zu Gewalt, Grausamkeit und religiösem Extremismus. Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der Montaigne lebte, war für Frankreich so verheerend, dass das Land ein weiteres halbes Jahrhundert brauchte, um sich davon zu erholen – und in gewisser Hinsicht erholte es sich gar nicht mehr, denn die Wirren des späten 16. Jahrhunderts verhinderten den Aufbau eines mächtigen Weltreichs analog zu England und Spanien. Als Montaigne starb, war Frankreich wirtschaftlich geschwächt und wurde von Seuchen, Hungersnöten und politischen Wirren heimgesucht.Kein Wunder, dass junge Adlige seiner Generation zu hochgebildeten Misanthropen wurden.
Auch Montaigne war nicht frei von dieser antiintellektuellen Grundeinstellung. Er wuchs in dem Gefühl auf, die einzige Hoffnung für die Menschheit sei die Rückkehr zur Einfachheit und zur Unwissenheit der Bauern. Sie seien die wahren Philosophen der modernen Welt, die Erben der antiken Weisen Seneca und Sokrates. Nur sie seien bewandert in der Kunst des Lebens, gerade weil sie von anderen Dingen nicht viel wussten. Insofern wandte sich auch Montaigne dem Kult der Unwissenheit zu: ein Schlag ins Gesicht seines Vaters.
Aber nichts wiederholt sich. Und niemand unterschied sich von den mittelalterlichen Adligen mehr als Montaigne mit seinen Versuchen, seinen Wagnissen und seinen Fragezeichen am Ende eines jeden Abschnitts, den er zu Papier brachte. Mit dem impliziten oder expliziten Zusatz «obwohl ich nicht weiß …» am Ende fast jedes seiner Gedanken war er von den alten Sicherheiten sehr weit entfernt. Doch die väterlichen Ideale lebten in ihm weiter, wenn auch gemildert, eingetrübt und ohne das Gefühl absoluter Gewissheit.
Das Experiment
Vielleicht lag diese Entschlossenheit, vermeintliche Gewissheiten und Vorurteile in Frage zu stellen, bei Montaigne in der Familie. In einer Zeit der konfessionellen Spaltungen waren die Eyquems bekannt – Montaigne sagte: «berühmt» – für ihre «brüderliche Eintracht». Die meisten in seiner Familie blieben katholisch, einige traten zum Protestantismus über, ohne dass es in der Folge
Weitere Kostenlose Bücher