Wie soll ich leben?
Vater begonnenen Weg fort, der offizielle Dokumente mit «de Montaigne» unterzeichnet hatte. Während sein Vater diesen Namenszusatz wegließ, wenn er knapp sein wollte, verzichtete Montaigne auf das «Eyquem».
Wenn Michel Eyquem de Montaigne, Nutznießer eines kometenhaften sozialen Aufstiegs, in seinen Essais über den kaufmännischen Hintergrund seines Vaters schweigend hinwegging, dann vielleicht, um sein Buch einem adligen, vornehmen Publikum schmackhaft zu machen. Vielleicht dachte er aber auch gar nicht lange darüber nach. Wahrscheinlich verzichtete sein Vater darauf, ihm Geschichten über den Ursprung der Familie zu erzählen. Montaigne war sich in seiner Jugend seiner Herkunft womöglich gar nicht so genau bewusst. Aber vielleicht spielte auch eine gewisse Eitelkeit eine Rolle. Sie war eine der vielen kleinen Schwächen, die Montaigne leichthin zugab, wenn er schrieb:
Wenn sich die andren ebenso aufmerksam betrachteten wie ich mich, würden sie sich ebenso voller Nichtigkeit und Torheit finden. Mich ihrer entledigen kann ich aber nicht, ohne mich meiner selbst zu entledigen. Wir sind alle durchtränkt hiervon, die einen wie die andern; aber jene, die es erkennen, stehn sich etwas besser dabei (doch nicht einmal dessen bin ich mir sicher).
Dieser Zusatz – «doch nicht einmal dessen bin ich mir sicher» – ist typisch Montaigne. Man muss sich die Bemerkung am Ende fast jeder Passage seines Buchs hinzudenken. Sie enthält im Kern seine ganze Philosophie. Ja, sagt er, wir sind Dummköpfe, aber anders kann es gar nicht sein, also entspannen wir uns und finden uns damit ab.
Wenn der familiäre Hintergrund seines Vaters ein wenig im Dunkeln liegt, so umgibt die Familie seiner Mutter ein ungleich tieferes Geheimnis. Auch Antoinette de Louppes de Villeneuves Vorfahren waren Kaufleute. Sie waren im späten 15. Jahrhundert aus Spanien eingewandert, wahrscheinlich als jüdische Flüchtlinge, die unter Zwangdas Christentum annahmen und das Land verließen, um der Judenverfolgung zu entgehen.
Falls Montaigne mütterlicherseits tatsächlich jüdischen Ursprungs war, so war er sich dessen womöglich gar nicht bewusst. Er interessierte sich nicht besonders für dieses Thema und erwähnte die Juden in den Essais nur gelegentlich, in der Regel in einem neutralen oder wohlwollenden, nie jedoch persönlich betroffenen Ton. Auf seiner Italienreise, die er in seinen späteren Lebensjahren unternahm, besuchte er Synagogen und nahm an einer Beschneidung teil, doch mit derselben Neugier, die er allem anderen entgegenbrachte: der protestantischen Liturgie, Hinrichtungen, Bordellen, Wasserspielen, Felsengärten und außergewöhnlichen Möbelstücken.
Er äußerte sich auch mit ironischer Skepsis zur «Konversion» neu angekommener jüdischer Flüchtlinge – zu Recht, denn es war kein freiwilliger Übertritt. Wenn es sich, wie manche vermuteten, um eine subtile Stichelei gegen die Familie seiner Mutter Antoinette handelte, so könnte es kaum überraschen, legten ihm Verwandte seiner Mutter in Bordeaux bei seiner politischen Karriere doch immer wieder Steine in den Weg. Und auch die Beziehung zu seiner Mutter selbst war von Spannungen geprägt.
Montaignes Mutter war zweifellos eine starke Persönlichkeit, doch den Konventionen ihrer Zeit entsprechend war sie ohne Macht und Einfluss. Sie heiratete jung, wie es damals üblich war, und wurde dabei kaum nach ihrer Meinung gefragt. Pierre Eyquem war sehr viel älter als sie. In der Heiratsurkunde vom 15. Januar 1529 wird ihr Alter mit dreiunddreißig Jahren angegeben, in Wirklichkeit war sie gerade «volljährig», also zwischen zwölf und fünfundzwanzig. Da sie ihr letztes Kind dreißig Jahre nach ihrer Hochzeit bekam, muss sie zum Zeitpunkt der Eheschließung eher jung gewesen sein. Die beiden vor Michel geborenen Kinder starben. Sie war wohl noch ein Teenager, als Michel zur Welt kam: vier Jahre nach ihrer Heirat.
Falls sie als junge Ehefrau etwas Kindliches oder Zurückhaltendes gehabt hatte, so war davon bald nichts mehr zu spüren. Rechtsurkunden aus verschiedenen Abschnitten ihres Lebens zeichnen das Bild einer resoluten, durchsetzungsfähigen und praktisch denkenden Frau. In seinem ersten Testament von 1561 übertrug ihr Mann die Führungdes Haushalts nach seinem Tod ihr und nicht seinem ältesten Sohn; erst später änderte er diese Verfügung. Im Jahr 1561 mangelte es Pierre Eyquem entweder an Vertrauen in Micheau (der damals bereits fast achtundzwanzig war), oder er
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