Wie soll ich leben?
dass es der Stadt viele Privilegien entzog. Als Bürgermeister tat Pierre, was er konnte, um die Geschicke der Stadt in die richtigen Bahnen zu lenken, aber seine Stadtrechte gewann Bordeaux nur langsam zurück. Die Anstrengung schadete Pierres Gesundheit. So, wie die Geschichten über Kriegsgräuel Montaigne vom Soldatenleben abschreckten, so bestärkteihn die Erschöpfung seines Vaters, ein wenig mehr Distanz zu seinem Amt zu wahren, als er dreißig Jahre später selbst Bürgermeister von Bordeaux wurde.
Pierre hatte einige brillante Ideen, zum Beispiel wollte er eine Art eBay des 16. Jahrhunderts schaffen. Er hätte gern veranlasst, dass in den Städten Börsen eingerichtet wurden, wo jeder kaufen und verkaufen konnte, was er wollte: «Zum Beispiel: ‹Ich suche Perlen zu verkaufen› oder ‹Ich suche Perlen zu kaufen›. Der und der möchte eine Reisebegleitung nach Paris; der und der hält nach einem Diener mit den und den Eigenschaften Ausschau, der und der nach einem Dienstherrn, der und der nach einem Arbeiter; der eine sucht dies, der andre das, jeder nach seinem Bedarf.» Ein sinnvoller Vorschlag, aus dem jedoch nichts wurde.
Er führte auch Buch über alle Geschehnisse und Vorfälle auf dem Gut und hielt das Kommen und Gehen der Dienerschaft fest sowie alle möglichen finanziellen und landwirtschaftlichen Daten. Seinen Sohn ermunterte er, diese Eintragungen fortzuführen. Montaigne begann damit nach Pierres Tod und stellte seine guten Absichten unter Beweis, aber er gab es bald wieder auf. Nur Fragmente seiner Aufzeichnungen sind erhalten. «Was bin ich doch für ein Trottel, es versäumt zu haben», heißt es in den Essais . Eine andere, gleichfalls von seinem Vater begonnene Art der Dokumentation behielt er jedoch bei: Er führte einen vorgedruckten Kalender in Buchform, die Ephemeris historica des deutschen Gelehrten Michael Beuther, kurz «Beuther» genannt. Dieser Kalender ist bis auf ein paar Seiten nahezu vollständig erhalten und enthält Aufzeichnungen Montaignes und seiner Angehörigen. Jeder Tag des Jahres hat eine eigene Seite mit einer gedruckten Zusammenfassung wichtiger historischer Ereignisse und mit Platz für persönliche Einträge. Montaigne notierte Geburten, Reisen und wichtige Besuche. Er führte dieses Buch konsequent, brachte aber oft Daten, Altersangaben und andere Informationen durcheinander.
Trotz der Klagen seiner Frau liebte Pierre offenkundig schwere Arbeit aller Art nicht weniger als den Ausbau des Anwesens. Vielleicht war sie verärgert, dass er das Geld in die Verbesserung des bereits Bestehenden investierte statt in den Erwerb neuer Ländereien und dass er zwar vieles in Angriff nahm, aber wenig vollendete. DassPierre die Idee mit der Kaufbörse aufgab, stand wohl mehr im Einklang mit seinem Charakter, als es scheint. Bei seinem Tod erbte Montaigne eine Menge halbfertiger Projekte, die zu vollenden er sich vornahm. Liegengebliebene Arbeiten sind etwas Entsetzliches, und sie einfach liegen zu lassen war wohl Pierres Art und Weise, damit umzugehen, so wie es Antoinettes Art und Weise war, sich lautstark darüber zu empören.
Manches Halbfertige ist wohl Pierres schwindenden körperlichen Kräften geschuldet, denn seit seinem sechsundsechzigsten Lebensjahr litt er an kräftezehrenden Nierenkoliken. Montaigne erlebte seinen Vater in den letzten Lebensjahren oft vor Schmerzen zusammengekrümmt. Er vergaß nie den Schock, als er Zeuge des ersten derartigen Anfalls wurde: Pierre verlor vor Schmerzen das Bewusstsein und sank in die Arme seines Sohnes. Wahrscheinlich verursachte ein solcher Anfall letztlich auch seinen Tod. Er starb am 18. Juni 1568 im Alter von vierundsiebzig Jahren. Zu dem Zeitpunkt hatte Pierre sein erstes Testament geändert und Montaigne die Aufgabe übertragen, sich um seine jüngeren Brüder und Schwestern zu kümmern und ihnen den Vater zu ersetzen. «Er muss meinen Platz einnehmen und mich bei ihnen ersetzen», heißt es in seinem Testament. Montaigne trat an die Stelle seines Vaters, was er nicht immer als einfache Aufgabe empfand.
In den Essais erscheint er als dessen krasses Gegenbild. Dem Lob des Vaters folgt häufig die Aufzählung seiner eigenen negativen Eigenschaften. Er beschreibt, wie Pierre das Anwesen ausbaute, und zeichnet dann ein fast karikaturhaftes Bild seiner eigenen Defizite, seines Desinteresses und Unvermögens. «Wenn ich mich darangemacht habe, ein altes Stück Mauer hochziehn oder einen schlecht ausgeführten Gebäudeteil in
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