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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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Ciceros und Vergils beizubringen?
    Er verfiel auf ein zweistufiges Modell. Für Stufe eins engagierte er einen Lehrer, der Latein flüssig beherrschte, obgleich es nicht seine Muttersprache war. Dr. Horsts größter Pluspunkt war, dass er zwar gut Lateinisch, aber kaum Französisch konnte, geschweige denn den heimischen Dialekt, so dass er mit dem kleinen Micheau nur auf Latein kommunizieren konnte. So wurde Dr. Horst – latinisiert Horstanus – schon früh zu seiner wichtigsten Bezugsperson, «noch bevor sich meine Zunge zu lösen begann», wie Montaigne sich ausdrückte.
    Stufe zwei bestand in dem Verbot für alle Haushaltsmitglieder, mit Micheau eine andere Sprache als Latein zu sprechen. Wenn sie demKind sagen wollten, es solle sein Frühstück essen, mussten sie den lateinischen Imperativ und die richtige Kasusendung benutzen. Also begannen alle, sich ein paar Brocken Latein anzueignen, und auch Pierre selbst kratzte seine schulischen Sprachkenntnisse zusammen. Wie Montaigne berichtet, profitierten auf diese Weise alle davon:
    Mein Vater und meine Mutter lernten auf diese Weise genug Latein, um es zu verstehn und sich notfalls seiner zu bedienen; dasselbe traf auch auf all jene im Hause zu, deren besondrer Obhut ich anvertraut war. Kurz, wir latinisierten uns dermaßen, dass einiges hiervon bis in die rundum liegenden Dörfer drang, wo es für manche handwerkliche Berufe und Arbeitsgeräte heute noch lateinische Bezeichnungen gibt, die sich durch ständigen Gebrauch dort eingewurzelt haben. Ich meinerseits verstand noch nach meinem sechsten Lebensjahr Französisch oder das heimische Périgordisch nicht besser als Arabisch.
    So lernte Montaigne «ohne System und Buch, ohne Grammatik und Lehrplan, ohne Rute und Tränen» ein Latein so tadellos wie das seines Lehrers, und es kam ihm noch natürlicher über die Lippen als diesem. Spätere Lehrer lobten seine Lateinkenntnisse.
    Warum tat sein Vater das? Bei dieser Frage wird uns bewusst, was für ein Abgrund sich zwischen uns und dem Gegenstand unserer Betrachtung auftut. Die meisten Menschen würden es heute als verrückt betrachten, Eltern und Kind einer toten Sprache wegen zu trennen. In der Renaissance erschien dieser Preis nicht zu hoch. Die Beherrschung eines schönen und grammatikalisch makellosen Lateins war das oberste Ziel einer humanistischen Bildung. Es war der Schlüssel zur antiken Welt, die als Inbegriff menschlicher Weisheit betrachtet wurde, aber auch der Schlüssel zur zeitgenössischen Kultur, da die meisten Gelehrten nach wie vor Lateinisch schrieben. Die Beherrschung dieser Sprache war zudem die Voraussetzung für eine Laufbahn im juristischen und staatlichen Dienst. Latein verlieh seinem Sprecher die höheren Weihen. Wer geschliffen Lateinisch sprach, der musste, so die Vorstellung, auch in der Lage sein, geschliffen zu denken. Pierre wollte seinem Sohn die besten Startbedingungen fürs Leben geben: einen Zugang zum verlorenen Paradies der Antike und zu einer erfolgreichen persönlichen Zukunft.
    Pierres Erziehungsmethode belegt auch die Ideale jener Zeit. Die meisten Jungen lernten Latein mühselig in der Schule, die Römer dagegen hatten es ohne großen Aufwand sprechen gelernt, so natürlich wie das Atmen. Die Tatsache, dass die Heutigen diese Sprache künstlich erlernen mussten, galt als Ursache dafür, dass sie sich nicht zur Seelengröße und Erkenntnisfülle der Griechen und Römer aufschwingen konnten.
    Es war alles andere als ein grausames Experiment, zumindest vordergründig. Die neuen Erziehungstheorien der Zeit betonten, Lernen müsse Vergnügen bereiten, und die wichtigste Lernmotivation der Kinder sei ihr angeborener Wissensdurst. Als Montaigne älter wurde, lernte er auch Griechisch auf spielerische Weise. «So schoben wir uns die Deklinationsformen Zug um Zug wie jene Schüler zu, die Arithmetik und Geometrie mittels bestimmter Brettspiele erlernen», schrieb er. Vom Griechischen blieb jedoch bei ihm nicht viel hängen. Später bekannte er, nur geringe Griechischkenntnisse zu besitzen. Insgesamt aber erwies sich dieser hedonistische Erziehungsansatz als vorteilhaft. Von frühester Kindheit an hatte er sich allein von seiner Neugier leiten lassen, und er wuchs zu einem unabhängigen Geist heran, der seinen eigenen Weg ging, ohne sich der Pflicht und Disziplin zu unterwerfen – mit einem Ergebnis, das vielleicht wertvoller war, als sein Vater es erhofft hatte.
    Andere Aspekte von Montaignes Kindheit spiegeln ähnlich zwanglose

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