Wie soll ich leben?
«die wir zwischen uns […] auf derart vollkommene Weise gepflegt haben, dass sich […] kaum ein Beispiel hierfür finden lässt. […] Damit sich ein solch inniger Bund herausbilden kann, müssen zahlreiche Umstände zusammentreffen; es ist folglich bereits viel, wenn dem Schicksal das alle drei Jahrhunderte einmal gelingt.»
Die beiden jungen Männer waren zwar aufeinander neugierig, aber es kam lange nicht zu einer Begegnung. Am Ende trafen sie sich rein zufällig bei einem großen gesellschaftlichen Ereignis in der Stadt Bordeaux, fingen an, sich zu unterhalten, und, wie Montaigne schreibt, «fühlten [wir] uns so zueinander hingezogen, ja so miteinander bekannt und verbunden, dass wir von Stund an ein Herz und eine Seele waren». Ihnen waren nur sechs gemeinsame Jahre vergönnt, von denen sie ein Drittel getrennt voneinander verbrachten, da sie oft in beruflicher Mission unterwegs waren. Doch diese kurze Zeit ihrer Freundschaft band sie so eng aneinander, als hätten sie ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht.
Wenn man über die Freundschaft zwischen Montaigne und La Boétie liest, hat man oft den Eindruck, La Boétie sei sehr viel älter und reifer gewesen als sein Freund, tatsächlich aber war er nur ein paar Jahre älter. Er war weder elegant noch gutaussehend, aber klug und warmherzig, und er besaß Substanz. Im Gegensatz zu Montaigne war er bereits verheiratet, als sie sich kennenlernten, und bekleidete einen höheren Posten im Parlament von Bordeaux. Unter den Kollegen hatte er sich als Autor und als Staatsbeamter einen Namen gemacht, man begegnete ihm mit Aufmerksamkeit und Respekt. Montaigne dagegen hatte bis dahin nur Rechtsgutachten geschrieben. Wenn man den beiden gesagt hätte, dass La Boétie später einmal hauptsächlich als Freund Montaignes in Erinnerung bleiben sollte und nicht umgekehrt, hätten sie es wohl nicht geglaubt.
La Boéties Reife kam vielleicht daher, dass er schon früh seine Eltern verloren hatte. Er wurde am 1. November 1530 in der kleinen Stadt Sarlat geboren, gut hundert Kilometer von Montaignes Anwesen entfernt. Sein Geburtshaus im reinsten Renaissancestil steht heute noch. Es war fünf Jahre vor La Boéties Geburt von seinem – so wie Pierre Eyquem hyperaktiven – Vater erbaut worden, der starb, als der Sohn zehn Jahre alt war. Wenig später starb auch seine Mutter. Sein Onkel und Namensvetter nahm den Jungen zu sich und ermöglichte ihm eine zeitgemäße humanistische Bildung, die allerdings weniger radikal vermittelt wurde als die Montaignes.
Wie Montaigne studierte auch La Boétie Rechtswissenschaften. Wohl im Jahr 1554 heiratete er Marguerite de Carle, eine Witwe mit zwei Kindern (eine der Töchter heiratete Montaignes jüngeren Bruder Thomas de Beauregard). Im Mai desselben Jahres – zwei Jahre bevor Montaigne am Gericht in Périgueux anfing – trat La Boétie seine Stelle als Rat im Parlament von Bordeaux an. Wahrscheinlich zählte auch er zu den Beamten, die ihre besser bezahlten Kollegen aus Périgueux mit Argwohn betrachteten.
La Boétie machte in Bordeaux eine steile Karriere. Anders als es die merkwürdigen Beschuldigungen im Jahr 1563 nahelegen, war er durchaus vertrauenswürdig. Man übertrug ihm heikle Missionen und schaltete ihn immer wieder als Verhandlungsführer ein, wie später Montaigne. Er war ernst, arbeitsam und pflichtbewusst. Die Unterschiedezu Montaigne waren beträchtlich, aber die beiden passten zusammen wie zwei Teile eines Puzzles. Sie teilten subtiles Denken, die Begeisterung für Literatur und Philosophie und die Entschlossenheit, ein Leben nach dem Vorbild der antiken Autoren und Kriegshelden zu führen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend bewundern gelernt hatten. All dies verband sie und unterschied sie zugleich von ihren Kollegen, die eine konventionellere Erziehung genossen hatten.
Wir kennen La Boétie hauptsächlich aus dem Blickwinkel Montaignes – des Montaigne der 1570er und 1580er Jahre –, der voll Trauer und Sehnsucht auf seinen verstorbenen Freund zurückblickte: durch einen Schleier der Wehmut, durch den man den wirklichen La Boétie nur erahnen kann. Von La Boéties Sicht Montaignes haben wir ein klareres Bild, denn er schrieb ein Sonett, in dem er darlegte, wie Montaigne sich selbst vervollkommnen könne. Das Sonett zeichnet nicht das Bild eines perfekten, in der Erinnerung erstarrten Montaigne, sondern eines lebendigen Menschen. Es war keineswegs ausgemacht, dass aus diesem alles andere als makellosen Charakter
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