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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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diesem System, von oben bis ganz nach unten, sind von ihrer freiwilligen Knechtschaft und der Macht der Gewohnheit wie gebannt, denn sie kennen oft gar nichts anderes. Und doch müssen sie nur aufwachen und sich weigern, länger mitzumachen.
    Wenn ein paar Individuen das Joch abschütteln, so La Boétie weiter, dann oft nur deshalb, weil ihnen durch den Blick auf die Geschichte die Augen geöffnet wurden. Das historische Beispiel der Tyrannenherrschaft zeigt ihnen das Grundmuster ihrer eigenen Gesellschaft. Statt die Verhältnisse hinzunehmen, in die sie hineingeboren wurden, erlernen sie die Kunst, zur Seite zu treten und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten – ein Trick, den Montaigne in den Essais zum Grundzug seines Denkens und Schreibens machte. Doch von diesen freien Geistern gibt es viel zu wenige. Sie schließen sich nicht zusammen, sondern bewahren sich «die Freiheit in ihrer Einbildungskraft».
    Man kann gut verstehen, warum Montaigne nach der Lektüre der Freiwilligen Knechtschaft deren Autor unbedingt kennenlernen wollte. Es ist ein kühnes Werk. Ob Montaigne mit allem, was darin gesagt wurde, einverstanden war, sei dahingestellt, es muss ihn aber fasziniert haben. La Boéties Reflexionen über die Macht der Gewohnheit,ein Schlüsselthema auch in Montaignes Essais , und der Gedanke, das Bewusstsein von Freiheit könne aus der Lektüre historischer und biographischer Werke erwachsen, fanden sicher bei ihm Anklang, ebenso die intellektuelle Kühnheit und die Fähigkeit, um die Ecke zu denken.
    La Boétie selbst betrachtete seine Abhandlung wohl nicht als einen Aufruf zur Revolution. Er brachte sie in wenigen diskreten Abschriften in Umlauf und plante wahrscheinlich keine Veröffentlichung – und falls doch, dann mit dem Ziel, die herrschende Elite zu verantwortungsvollerem Handeln zu ermahnen, nicht, um einen Volksaufstand zu schüren. Deshalb wäre er wohl entsetzt gewesen zu sehen, was mit seinem Werk geschah. Zehn Jahre nach seinem Tod erschien Von der freiwilligen Knechtschaft als radikales protestantisches Traktat unter dem effekthascherischen Titel Contr’un (Gegen einen): als Aufruf zur Rebellion gegen den französischen König. Es wurde in mehreren protestantischen Publikationsorganen abgedruckt: erstmals in der anonymen Reveille-matin des François et de leurs voisins (1574) und dann in verschiedenen Ausgaben der von Simon Goulart herausgegebenen Mémoires de l’estat de France sous Charles IX (1577). Es präsentierte sich nun als eine flammende Kampfschrift, und die Reaktion war dementsprechend. Am 7. Mai 1579, zwei Tage bevor Montaigne das offizielle Druckprivileg zur ersten Ausgabe der Essais erhielt, wurde Goularts zweite Auflage auf Beschluss des Parlaments von Bordeaux öffentlich verbrannt. Kein Wunder, dass Montaigne La Boéties Schrift als jugendliche Fingerübung darstellte, die für niemanden eine Bedrohung darstelle.
    Die Umdeutung im Streit der Konfessionen war der Beginn eines langen und wechselhaften Nachlebens dieses Traktats. Bis heute wird es als Aufruf zum bewaffneten Kampf oder zumindest des gerechten Widerstands immer wieder nachgedruckt. Im Zweiten Weltkrieg erschien es in den Vereinigten Staaten unter dem Titel Anti-Dictator mit Anmerkungen zu Themen wie «Appeasement ist sinnlos» oder «Why Führers make speeches» (Warum Führer Reden halten). Die Schrift wurde von anarchistischen und libertären Gruppen aufgegriffen und mit radikalen Vorworten und Kommentaren veröffentlicht. La Boéties postumer Ruhm als anarchistischer Freiheitsheld wird nur noch von seiner Berühmtheit als Freund Montaignes überstrahlt.
    Was Anarchisten und Libertäre am meisten bewunderten, war die auch von Mahatma Gandhi verkörperte Idee, eine Gesellschaft könne sich dadurch von der Tyrannei befreien, dass sie dem Unterdrücker stillschweigend ihre Zusammenarbeit aufkündigt. In einem neueren Vorwort wird La Boétie als Inspirator einer «anonymen, verdeckten Ein-Mann-Revolution» betrachtet, gewiss die reinste denkbare Form der Revolution. «Voluntaristen» berufen sich auf La Boétie als Gewährsmann der Ansicht, jede politische Betätigung sollte verweigert werden, auch die demokratischen Wahlen, da sie der Staatsgewalt eine falsche Legitimität verliehen. Manche frühen Voluntaristen lehnen auch das Frauenwahlrecht mit der Begründung ab, wenn Männer nicht wählen sollten, dann sollten Frauen dies ebenso wenig tun.
    Der Aspekt der «stillschweigenden Verweigerung», der

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