Wie soll ich leben?
würde ich noch viel betrübter sein, so dass ich nicht weiß, was anfangen mit diesem Menschen.»
In La Boéties Sonett geht die Verwirrung nicht so weit wie bei Montaigne: Seine Gefühle wurden nicht durch Trauer verstärkt. Bemerkungen über Unvernunft und persönliche Anziehungskraft finden sich nicht in dem Sonett oder in einem jener mittelmäßigen Liebesgedichte, die La Boétie an Frauen schrieb, sondern ausgerechnet in seiner frühen Schrift über Politik, die in Bordeaux die Runde machte, als Montaigne den Namen La Boétie zum ersten Mal hörte.
La Boétie war offenkundig noch recht jung, als er den Discours de la servitude volontaire verfasste. Montaigne zufolge war er sechzehn Jahre alt und behandelte das Thema als eine Art literarische Fingerübung, «da es altbekannt und in den Büchern an tausend Stellen bereits durchgedroschen war». Womöglich spielte Montaigne die Seriosität des Werks ganz bewusst herunter, denn es war umstritten, und er wollte weder La Boéties Ruf beschädigen noch sich selbst mit seinen Äußerungen in Schwierigkeiten bringen. Selbst wenn es kein ganz so frühes Jugendwerk war, wie von Montaigne behauptet, war es doch erstaunlich. La Boétie wurde sogar als ein Rimbaud der politischen Soziologie bezeichnet.
Das Thema der Abhandlung Von der freiwilligen Knechtschaft ist die Leichtigkeit, mit der es im Laufe der Menschheitsgeschichte den Tyrannen immer wieder gelang, sich die Massen zu unterwerfen, auch wenn ihre Macht schwand, sobald diese Massen ihnen ihre Unterstützung entzogen. Es bedurfte also keiner Revolution: Es reichte, wenn die Menschen, ein Heer von Sklaven und Schmeichlern, von einem Tyrannen abfielen und nicht länger bereit waren, ihm zu folgen. Doch dies geschah so gut wie nie, nicht einmal dann, wenn der Tyrann seine Untertanen grausam misshandelte. Ja, je mehr die Tyrannen ihr Volk hungern ließen, desto mehr schien das Volk sie zu lieben. Die Römer betrauerten Nero nach seinem Tod, trotz seiner Grausamkeit. Ebenso Julius Caesar, den La Boétie – was außergewöhnlich ist – nicht bewunderte. Montaigne hegte ähnliche Vorbehalte. Hier war ein Herrscher, so La Boétie, «der die Gesetze und die Freiheit aufhob und an dem nichts Gutes, wie ich glaube, zu finden war»; und doch wurde er über alle Maßen verehrt. Das Rätsel der Tyrannenherrschaft ist so unergründlich wie die Liebe.
La Boétie glaubte, der Tyrann habe sein Volk irgendwie hypnotisiert, auch wenn dieser Begriff damals noch gar nicht existierte. Man könnte auch sagen: Die Menschen verlieben sich in ihn und werden willenlos. Es sei ein schreckliches Schauspiel, «eine Million Menschen in elender Knechtschaft zu sehen, den Hals unter dem Joch, und nicht durch eine stärkere Gewalt bezwungen, sondern, wie es scheint, irgendwie verzaubert und behext allein durch den Namen des Einen, dessen Macht sie nicht fürchten müssen, denn er ist allein, noch seine Vorzüge zu lieben, da er statt solche zu haben unmenschlich und grausam ist». Und doch erwachen sie nicht aus dem Traum. La Boétie erkennt hier fast so etwas wie Hexerei. Wer sie in geringerem Maße ausübe, würde wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden; verhexe man dagegen eine ganze Gesellschaft, beklage sich niemand.
La Boéties Analyse der politischen Macht kommt Montaignes Faszination von der Rätselhaftigkeit La Boéties sehr nahe: «Weil er es war, weil ich es war.» Dass das Charisma eines Tyrannen wie ein Zauberbann oder ein Liebestrank wirken kann, kennen wir von Diktatoren aus unserer eigenen jüngeren Geschichte. Als ein Henker desugandischen Diktators Idi Amin in einem Interview gefragt wurde, warum er Amin so treu gedient habe, klingt seine Antwort so, als spreche Montaigne über La Boétie, Alkibiades oder Sokrates:
Sehen Sie, es ist Liebe, so etwas nennt man Liebe: Nehmen wir das Beispiel eines Mannes, der eine einäugige Frau liebt. Wenn Sie ihn fragen, warum er diese hässliche Frau liebt, glauben Sie, dass Sie darauf eine Antwort bekommen? Das Geheimnis, warum ich ihn und warum er mich liebt, bleibt zwischen uns beiden.
Die Tyrannei schafft eine Dramaturgie der Unterwerfung, nicht das Szenario einer erbitterten Konfrontation, wie sie Montaigne so oft beschreibt. Das Volk gibt sich freiwillig auf, was den Tyrannen nur ermuntert, ihm alles zu nehmen, sogar das Leben, wenn er es in den Krieg schickt, um für ihn zu kämpfen. Schließlich verliert der Mensch sogar die Erinnerung an seine Freiheit. Alle in
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