Wie soll ich leben?
davon ausgehen, dass sie auf Lagebâtons Seite standen. La Boétie war für den französischen Kanzler L’Hôpital tätig gewesen, als dessen Gefolgsmann Lagebâton galt, und dieser Partei bezeugt auch Montaigne in seinen Essais seine Bewunderung. Andererseits war d’Escars ein Freund von La Boéties Familie, und La Boétie befand sich in d’Escars’ Haus, als er sterbenskrank wurde. Das alles erregte Misstrauen, und vielleicht geriet deshalb auch Montaigne unter Verdacht.
Jeder Angeklagte hatte das Recht, sich vor dem Parlament zu verteidigen – für Montaigne die Gelegenheit, seine rhetorischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Von allen Rednern machte er den größten Eindruck. «Er sprach mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit», heißt es in den Akten. Mit den Worten, er «zeige den ganzen Gerichtshof an», trat er ab.
Er wurde aber zurückgerufen und aufgefordert darzulegen, was er damit gemeint habe. Er antwortete, er sei kein Feind Lagebâtons, der im Gegenteil bisher ein Freund seiner Familie gewesen sei. Aber – und dieses Aber war unausweichlich – er wisse, dass Angeklagte üblicherweise gegen ihre Kläger Widerspruch einlegen können, weshalb auch er von diesem Recht Gebrauch machen wolle. Erneut sprach er in Rätseln, doch er wollte damit sagen, dass Lagebâton und nicht er es war, der sich einer Ungehörigkeit schuldig gemacht hatte. Auf weitere Ausführungen verzichtete Montaigne. Man setzte ihn unter Druck, seine Bemerkung zurückzunehmen, und damit war die Sache erledigt. Die Beschuldigung gegen ihn wurde schließlich fallen gelassen.
Dennoch bleibt es eine rätselhafte Episode, die einen anderen Montaigne zeigt als den Verfasser der Essais , der stets einen kühlen Kopf bewahrte, oder den in seine Bücher vertieften, selbstvergessenen jungen Mann, als der er sich selbst gern präsentierte. Hier tritt uns jemand entgegen, der sich durch «Lebhaftigkeit» auszeichnet, ungestüm den Saal verlässt, Vorwürfe erhebt, die er nicht belegen kann, und so wild durcheinanderredet, dass niemand imstande ist, ihm zu folgen. In den Essais gesteht Montaigne, dass er «von Natur aus zum Jähzorn [neigt], der, obwohl nur oberflächlich und kurz, mir oft meinen Handelverdirbt». Die Frage liegt nahe, ob er sich mit seinen ungestümen Worten auch seine Karriere im Parlament von Bordeaux verdarb, wenn nicht bei dieser Gelegenheit, dann vielleicht bei einer anderen.
Überraschender als die Begegnung mit der hitzköpfigen Seite des jungen Montaigne ist, dass er hier in die Nähe von Eiferern und Extremisten gerückt wird. Seine politischen Loyalitäten waren uneindeutig, und es ist nicht immer leicht zu sagen, was er über ein bestimmtes Thema dachte. Aber vielleicht hatte sein Auftreten mehr mit persönlichen Loyalitäten als mit politischen Überzeugungen zu tun. Seine Familie pflegte Verbindungen zu beiden politischen Lagern, und er selbst musste versuchen, mit allen Parteien auf gutem Fuß zu stehen. Vielleicht verdankte sich sein Schwanken diesem Dilemma. Der gegen ihn erhobene Vorwurf war auch eine Beleidigung – eine Beleidigung seiner Person und mehr noch La Boéties, der sich nicht mehr selbst verteidigen konnte. Denn Lagebâton hatte die Ehre des ehrbarsten Menschen in Frage gestellt, den Montaigne jemals kennengelernt hatte: des Menschen, den er in seinem ganzen Leben wohl am meisten geliebt und erst kurz zuvor verloren hatte. Seine Reaktion hilfloser Wut ist daher verständlich.
Langsamkeit und Vergesslichkeit waren gute Antworten auf die Frage, wie man leben sollte. Man konnte sich bedeckt halten und gewann damit Zeit für sorgsames Abwägen. Aber Montaigne machte Erfahrungen, die eine stärkere Leidenschaft in ihm hervorbrechen ließen und nach einer anderen Antwort verlangten.
5
Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Verkrafte Liebe und Verlust!
La Boétie: Liebe und Tyrannei
Montaigne war Mitte zwanzig, als er Étienne de La Boétie kennenlernte. Sie arbeiteten beide im Parlament von Bordeaux und hatten schon viel voneinander gehört. Montaigne hatte den Ruf eines freimütigen, altklugen jungen Mannes, La Boétie war bekannt als der aufstrebende Verfasser eines kontrovers diskutierten Manuskripts mit dem Titel Discours de la servitude volontaire (Von der freiwilligen Knechtschaft) , das in Bordeaux kursierte. Montaigne las diese Schrift erstmals Ende der 1550er Jahre und schrieb später, wie dankbar er dafür sei, dass er durch sie deren Autor kennen gelernt habe. So begann eine Freundschaft,
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