Wie soll ich leben?
Griff zu bekommen, schickte der König einen neuen Generalleutnant, Blaise Monluc, nach Bordeaux und befahl ihm, die Stadt und ihre Umgebung zu «befrieden».
Monluc richtete ein Blutbad an. Er ließ zahlreiche Protestanten ohne Gerichtsprozess erhängen oder auf das Rad binden. Nach Kämpfen in dem Ort Terraube befahl er, die Bewohner zu töten und in einen Brunnen zu werfen, der bald bis zum Rand mit Leichen gefüllt war. Später, in seinen Memoiren, erinnerte sich Monluc an einen Rebellenführer, der ihn nach seiner Gefangennahme um Gnade anflehte. Monluc packte den Mann an der Kehle und schleuderte ihn so heftig gegen einen Stein, dass er starb. «Hätte ich anders gehandelt», schrieb er, «hätte ich mich zum Gespött gemacht.» Ein anderes Mal hoffte ein protestantischer Hauptmann, der viele Jahre zuvor unter Monluc in Italien gekämpft hatte, sein ehemaliger Waffengefährte würde ihn verschonen. Doch Monluc ließ ihn unverzüglich töten – mit der Begründung, er wisse, wie tapfer der Mann war: Er konnte nie etwas anderes sein als ein gefährlicher Feind. Solche Szenen tauchen in Montaignes Essais immer wieder auf: Ein Mensch erbittet Gnade, und der andere muss sich entscheiden, ob er sie gewähren will. Montaigne faszinierte das moralisch vielschichtige Problem, das sich hier stellte. Was für ein moralisches Problem?, hätte Monluc gefragt, für den Töten stets die richtige Lösung war: «Einen Mann zu hängen ist wirkungsvoller, als hundert in der Schlacht sterben zu lassen.» In und um Bordeaux erhängte man so viele, dass die Galgen knapp und die Zimmerleute beauftragt wurden, mehr Galgen, Räder und Pfähle für Scheiterhaufen herzustellen. Wenn die Galgen voll waren, ließ Monluc seine Opfer an Bäumen aufhängen, und er brüstete sich damit, dass sein Zug durch die Guyenne anhand der am Straßenrand baumelnden Leichen nachverfolgt werden könne. Als er sein Werk beendet hatte, sei es in der Regionruhig gewesen, behauptete er. Diejenigen, die überlebt hatten, machten nicht mehr den Mund auf.
Auch Montaigne lernte Monluc kennen, allerdings viel später, und ihn interessierte sein Privatleben mehr als seine öffentlichen Taten, besonders sein Versagen als Vater und das schlechte Gewissen, das ihn quälte, als einer seiner Söhne in der Blüte seiner Jahre starb. Monluc gestand Montaigne, er habe zu spät erkannt, dass er dem Jungen stets nur Kälte entgegengebracht hatte, obwohl er ihn sehr liebte. Der Grund dafür lag zum Teil darin, dass er einer damals modernen Erziehungsmethode folgte, die emotionale Kälte und Strenge empfahl: «Dieser arme Junge hat von mir nichts zu sehen bekommen als eine finstre und geringschätzige Miene», soll Monluc zu Montaigne gesagt haben. «Ich habe mich gezwungen, ja abgequält damit, an dieser seelenlosen Maske festzuhalten.» Der Ausdruck «Maske» trifft ins Schwarze, denn 1571, zur Zeit von Montaignes Rückzug aus seinen öffentlichen Ämtern, wurde Monluc von einem Arkebusenschuss entstellt. Für den Rest seines Lebens verhüllte er sein zernarbtes Gesicht, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte. Man kann sich die Irritation beim Anblick des maskierten Gesichts eines grausamen Mannes vorstellen, dem nur wenige ins Auge zu blicken wagten.
Während der troubles der 1560er Jahre reiste Montaigne mehrmals in offizieller Mission nach Paris, und er war offenbar einen Großteil des Jahres 1562 und Anfang 1563 auf Dienstreise, auch wenn er immer wieder nach Bordeaux zurückkehrte. Mit Sicherheit war er im August 1563 in Bordeaux, als sein Freund Étienne de La Boétie starb. Und er muss auch im Dezember 1563 dort gewesen sein, als ein merkwürdiger Zwischenfall passierte, der bemerkenswerteste Vorgang unter den wenigen, die im Zusammenhang mit Montaigne in den Registern der Stadt erwähnt sind.
Einen Monat zuvor hatte der extremistische Katholik François de Pérusse d’Escars dem gemäßigten Präsidenten des Parlaments von Bordeaux, Jacques-Benoît de Lagebâton, offen den Kampf angesagt und ihm ins Gesicht geschleudert, er habe kein Recht zu regieren. Lagebâton trat ihm zwar erfolgreich entgegen, aber d’Escars forderte ihn im folgenden Monat erneut heraus, bis Lagebâton eine Liste mit Parlamentsräten vorlegte, die seiner Ansicht nach mit d’Escars unter einerDecke steckten und gegen Bezahlung für ihn tätig waren. Überraschenderweise tauchten auf dieser Liste auch die Namen Montaignes und des kurz zuvor verstorbenen La Boétie auf. Dabei muss man
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