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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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in der Schrift Von der freiwilligen Knechtschaft zum Ausdruck kommt, war für Montaigne gewiss reizvoll. Er stimmte zu, das Wichtigste im Widerstand gegen den Missbrauch der politischen Macht sei die Wahrung der geistigen Freiheit – und das konnte auch den Rückzug aus dem politischen Leben bedeuten. Mit seinem Beharren auf Verweigerung der Mitarbeit und Wahrung der eigenen Integrität könnte Von der freiwilligen Knechtschaft fast ein Essai von Montaigne sein, geschrieben in einer frühen, streitbaren Phase seines Lebens, als er noch nicht die Kunst vervollkommnet hatte, gleichzeitig auf beiden Seiten zu stehen. Wie Ralph Waldo Emerson beim Lesen der Essais Jahrhunderte später hätte auch Montaigne angesichts der Freiwilligen Knechtschaft sagen können: «Es war mir, als ob ich es in irgendeinem früheren Leben selbst geschrieben hätte, so aufrichtig und vertraut sprach es zu meinen Gedanken, meinen Erfahrungen.»
    Bevor das Traktat von hugenottischen Propagandisten politisch vereinnahmt wurde, plante Montaigne, es in die Sammlung seiner Essais aufzunehmen, freilich unter Nennung seines Urhebers. Montaigne hatte das Traktat direkt im Anschluss an das Kapitel «Über die Freundschaft» einfügen wollen, in dem er leidenschaftlich über seine Gefühle schreibt. Das Traktat wäre dann eine Art Gastbeitrag und gewissermaßen das Herzstück des ersten Buches der Essais gewesen und wie ein «formvollendetes Gemälde» von den anderen Kapiteln umrahmt worden.
    Als er dann jedoch das Buch zur Veröffentlichung an seinen Verleger schickte, hatte sich die Situation geändert. Von der freiwilligen Knechtschaft galt nunmehr als eine revolutionäre Kampfschrift. Statt als Tribut an die Brillanz seines verstorbenen Freundes würde der Text jetzt als eine Provokation erscheinen. Deshalb zog er ihn zurück, ließ aber seine eigene Vorbemerkung gleichsam wie den Stumpf nach einer Amputation stehen. «Da ich entdecken musste», schrieb er, «dass seine Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft inzwischen in böser Absicht von denen veröffentlicht worden ist, die unsere gesellschaftliche Ordnung durcheinanderbringen und verändern wollen (ohne sich darum zu sorgen, ob sie auf solche Weise besser wird), und dass diese Leute das Werk mit Schriften aus ihrer Giftküche vermengten, habe ich auf meinen Plan verzichtet, es hier zu bringen.» Wahrscheinlich fügte er seine Bemerkung über den jugendlichen Charakter des eher als Versuch zu verstehenden Werks erst jetzt hinzu.
    Dann überlegte er es sich wieder anders. Um La Boétie nicht als unaufrichtig erscheinen zu lassen, machte er jetzt die Anmerkung, La Boétie habe selbstverständlich an das geglaubt, was er geschrieben habe; er habe nie gegen seine Überzeugungen gehandelt. Montaigne sagte sogar, sein Freund wäre lieber in Venedig, einer Republik, geboren worden als in Sarlat, also im französischen Staat. Doch das klang erneut so, als wäre La Boétie ein Rebell gewesen. Ein neuer Einschub war also nötig: «Aber er hatte einen weiteren Grundsatz seiner Seele als unumstößlich eingeprägt: stets pflichtbewusst denjenigen Gesetzen zu gehorchen und sich ihnen zu unterwerfen, in die er hineingeboren war.» Alles in allem scheint Montaigne also über La Boéties Traktat ganz schön ins Schleudern gekommen zu sein. Man kann sich gut vorstellen, wie er in einer Ecke der Druckerwerkstatt sitzt und in letzter Sekunde diese Zeilen zu Papier bringt, das zurückgezogene Manuskript noch unterm Arm.
    Wenn man bedenkt, dass Von der freiwilligen Knechtschaft zur selben Zeit in Bordeaux verbrannt wurde, erscheint es von Montaigne durchaus gewagt, das Werk zu erwähnen, ja gar zu rechtfertigen. Widersprüchlich wie immer, agierte er mit Vorsicht, als er die Veröffentlichung zurückzog, gleichzeitig aber auch mit dem Mut dessen, der entschlossen ist, die Schrift zu verteidigen. Mehr noch: Montaigneerörterte, wie La Boétie überhaupt dazu kam, dieses Werk zu schreiben, und gab den Namen seines Verfassers preis. Den kannte man wahrscheinlich bereits, aber keines der protestantischen Blätter, die das Traktat bis dahin veröffentlicht hatten, war so weit gegangen, ihn anzugeben.
    Nachdem sich Montaigne also entschieden hatte, La Boéties Schrift nicht zu veröffentlichen, schrieb er: «So werde ich jetzt sein ernstes Werk durch eines ersetzen, das zwar in demselben Lebensabschnitt entstand, aber unbeschwerter ist, und fröhlicher.» Es war eine Auswahl von La Boéties Versen: nicht jener,

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