Wie soll ich leben?
die er an ihn selbst geschrieben hatte, sondern von neunundzwanzig Sonetten, adressiert an eine namentlich nicht genannte junge Frau. Doch ein paar Jahre später änderte Montaigne seinen Plan erneut und entfernte auch diese. Am Ende blieben lediglich seine Einleitung, die Widmung und die knappe Bemerkung stehen: «Die Gedichte wurden inzwischen anderswo veröffentlicht.» Ein ganzes Kapitel (Kapitel 29 des Ersten Buchs) wurde damit in doppelter Hinsicht verstümmelt, was Montaigne ganz bewusst nicht zu verstecken suchte. Er lenkte im Gegenteil die Aufmerksamkeit darauf, was zu vielen Spekulationen Anlass gab. Hat Montaigne in seiner Eile Textteile weggelassen oder hinzugefügt, ohne sich um die Bruchstellen zu kümmern, oder wollte er den Leser damit auf etwas hinweisen?
In den letzten Jahren wurde wiederholt eine radikale These vorgetragen. Wie schon erwähnt, trägt Von der freiwilligen Knechtschaft Züge von Montaignes eigenem Schreiben, so dass die Schrift beinahe von ihm hätte verfasst sein können. Sie handelt von der Gewohnheit, von der Natur, von Perspektiven und von der Freundschaft – vier Themen, die in den Essais immer wieder anklingen. Die innere Freiheit wird als eine Form des politischen Widerstands betrachtet: auch das entspricht Montaignes Position. Das Werk enthält zahlreiche Beispiele aus der antiken Geschichte, genau wie die Essais . Und es wirkt auch selbst wie ein Essai , ein «Versuch». Es ist eloquent, unterhaltsam und schweift immer wieder ab. Der Autor macht viele Exkurse, etwa wenn er die Pléiade erörtert, einen Dichterkreis des 16. Jahrhunderts, ehe er fortfährt: «Um aber dahin zurückzukehren, wo ich vor meiner Abschweifung den Faden verlor.» Diese spielerische Desorganisation erscheint ungewöhnlich für den Übungstext eines jungen Mannes, abersie macht ihn lebendig und spontan. Der Autor spricht mit uns, als säßen wir bei einem Glas Wein mit ihm zusammen oder hätten ihn zufällig an einer Straßenecke in Bordeaux getroffen. Der Gedanke liegt nahe, dass in Wirklichkeit Montaigne und nicht La Boétie der Verfasser des Traktats ist.
Man könnte dagegenhalten, der Text müsse zwingend von La Boétie stammen, schließlich kursierten in Bordeaux Abschriften des Manuskripts. Doch keine der heute noch vorhandenen Abschriften ist in La Boéties Handschrift geschrieben, sondern immer von fremder Hand, und der einzige klare Beleg dafür, dass der Text tatsächlich kursierte, stammt von Montaigne selbst. Montaigne ist es auch, der die Urheberschaft La Boétie zuschreibt und den Text als Jugendschrift definiert. Vielleicht war eher Montaigne dem jungen Rimbaud vergleichbar, wenn er hitzköpfig aus dem Parlament von Bordeaux stürmte, nicht der schon früh sehr viel bedächtigere La Boétie. Oder vielleicht war es gar nicht das Werk eines jungen Mannes? Das würde einige anachronistische Stellen im Text erklären. Vielleicht hat Montaigne den Text sehr viel später geschrieben, wie Verschwörungstheoretiker behaupten, und die Anachronismen eingestreut, um kluge Leser auf die richtige Spur zu bringen.
Der Erste, der diese These aufstellte, war der eigenwillige Montaigne-Forscher Arthur-Antoine Armaingaud im Jahr 1906. Er war bekannt für seine überzogenen Behauptungen, die er in die Welt setzte, um sich anschließend zurückzulehnen und zuzusehen, wie die Fetzen flogen. Damals fand Armaingaud kaum Zustimmung (und auch heute hat seine These nur wenige Anhänger), aber er konnte immerhin eine neue Generation von Querdenkern dafür gewinnen, namentlich Daniel Martin und David Lewis Schaefer. Schaefer möchte Montaigne als einen heimlichen Revolutionär enttarnen wie vor ihm Armaingaud. Daniel Martin wiederum betrachtet das Traktat als ein kryptisches Kreuzworträtsel und meint: « Von der freiwilligen Knechtschaft aus den Essais wegzudenken ist so, wie wenn man aus einem Orchester die Flöte herausnimmt.»
Die Vorstellung, Montaigne habe ein radikales, protoanarchistisches Traktat geschrieben, anschließend eine in die Irre führende Verschleierungstaktik eingesetzt und Hinweise versteckt, die nur einscharfsinniger Leser aufspüren kann, ist aus mehreren Gründen verlockend. Wie alle Verschwörungstheorien hat auch diese den Reiz, dass man Puzzleteilchen zusammensetzen kann, und sie verleiht Montaigne etwas Schillerndes: Montaigne als eine revolutionäre Zelle, bestehend aus einer einzigen Person, und als Meister der Täuschung.
Gelegentlich zeigen die Essais , dass Montaigne, wenn er
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