Wie soll ich leben?
wollte, durchaus trickreich agieren konnte. Einmal griff er zu einer raffinierten List, um einen Freund zu kurieren, der unter Impotenz litt und befürchtete, unter einem bösen Fluch zu stehen. Statt ihm seine Hirngespinste auszureden, gab er ihm ein kleines flaches Goldstück, auf dem «Himmelszeichen» eingeprägt waren, dazu ein Stoffband, und trug ihm auf, damit jedes Mal vor dem Sex bestimmte festgelegte Rituale zu vollziehen. Das funktionierte. Montaigne hatte ein schlechtes Gewissen dabei, auch wenn die Flunkerei zum Wohl seines Freundes geschah. Die Episode zeigt jedoch, dass er zu einer Täuschung fähig war, wenn die Situation es verlangte oder wenn die Psychologie des Falles ihn genügend faszinierte.
Doch aufs Ganze gesehen trieb er solche Spiele eher selten, er betonte lieber seine Wahrhaftigkeit und Offenheit in allen Dingen sowie seine Begriffsstutzigkeit bei geselligen Spielen und Rätselaufgaben. Freilich konnte auch das Teil eines großangelegten Täuschungsmanövers sein. Wenn er wirklich ein raffinierter Betrüger war, so muss man alles in Zweifel ziehen, was er in den Essais geschrieben hat: eine schwindelerregende Aussicht – mit weiteren beunruhigenden Konsequenzen. Wenn La Boétie tatsächlich nicht der Autor der Schrift Von der freiwilligen Knechtschaft war, dann war er auch nicht derjenige, zu dem ihn Montaigne in den Essais macht. Sicher, er war eine real existierende Person, aber er besäße dann keine klaren Konturen und wäre nur eine Chiffre für Montaignes Cleverness. Und falls La Boétie tatsächlich nicht über diese außergewöhnlichen Fähigkeiten verfügte und nicht derjenige war, der ein solches Buch hätte schreiben können, woher kam dann Montaignes tiefe Zuneigung zu ihm? Für sie muss es einen Grund gegeben haben, und der lag offenkundig nicht in La Boéties körperlicher Attraktivität – es sei denn, Montaigne hätte auch hier gelogen.
Wenn man die enge Verbundenheit der beiden Männer ernst nimmt, ist die Verschwörungstheorie inakzeptabel. Sollte Montaignedie Freiwillige Knechtschaft La Boétie zugeschrieben haben, um sich selbst zu decken, hätte er mit dem Andenken an seinen Freund, das an Heiligenverehrung grenzte, ein böses Spiel getrieben. Es ist überraschend, dass er La Boéties Urheberschaft ausgerechnet in einem Augenblick preisgibt, da die Schrift öffentlich verbrannt wurde. Noch sehr viel überraschender aber wäre es, wenn La Boétie nicht der Autor dieses Werks wäre. Es wäre ein unerhörter Verrat, fast ein Akt des Hasses. Doch in Montaignes Schriften gibt es nichts (auch nicht in seinem Reisetagebuch, das ja nicht für die Veröffentlichung bestimmt war), was darauf hindeutet, dass er solche Hassgefühle hegte.
Die Intensität der Zuneigung füreinander liefert eine überzeugende Erklärung dafür, warum sich Montaignes und La Boéties Schreibstil so ähneln. Montaigne und La Boétie teilten alles: Sie verschmolzen miteinander – nicht wie ein Autor mit seinem Pseudonym, sondern wie ein Autorenduo, das seine Gedanken gemeinsam entwickelt: debattierend, streitend, aber immer fesselnd. In den wenigen Jahren, die ihnen vergönnt waren, müssen Montaigne und La Boétie von morgens bis abends miteinander diskutiert haben: über die Macht der Gewohnheit; über die Notwendigkeit, überkommene Gedanken zu verwerfen und neue Standpunkte einzunehmen; über Tyrannei und die Freiheit des Individuums. Anfangs waren wohl La Boéties Ideen klarer artikuliert, später hat Montaigne ihn überrundet und Gedanken über Gewohnheiten und Standpunkte in Richtungen entwickelt, die auch für La Boétie neu waren. All das fand seinen Weg in die Essais , die in mehr als einer Hinsicht zu einem Monument für La Boétie wurden. Montaignes und La Boéties Geist verflochten sich so eng, dass man selbst mit den besten kritischen Instrumentarien den einen nicht mehr von dem anderen trennen konnte.
Keiner der beiden Freunde hatte Grund, daran zu zweifeln, dass es noch Jahrzehnte so weiterginge, mit immer größerem Erfolg und als gefeierte Denker eines modernen Athen. Aber der junge Sokrates sollte schon bald vom Gastmahl des Lebens abberufen werden.
La Boétie: Tod und Trauer
Es begann am Montag, dem 9. August 1563. La Boétie hatte den Tag auf dem Landgut von François de Péruse d’Escars verbracht, der gegen Lagebâton im Parlament von Bordeaux rebelliert hatte. An jenem Abend sollte La Boétie bei Montaigne zu Abend essen, doch kurz vor seinem Aufbruch von d’Escars
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