Wie soll ich leben?
voll Gesundheit und Glück gewesen ist; bei der Unbeständigkeit der menschlichen Dinge konnte es schwerlich weiterdauern.» Das Alter würde ihm nur Schmerzen und Gebrechlichkeit bringen – besser, dies zu vermeiden. Montaignes Blick verriet wohl seine Erschütterung, doch La Boétie wies ihn zurecht: «Wie, mein Bruder, wollt Ihr mir Furcht machen? Wenn ich sie hätte, an wem wäre es, sie mir zu nehmen, wenn nicht an Euch?«
La Boétie starb den perfekten Tod des Stoikers, in mutiger Entschlossenheit, vernunftbestimmt und weise. Und auch Montaigne erfüllte seine Aufgabe und stand seinem Freund ermunternd zur Seite. Er war Zeuge des Geschehens, um später alles bis ins Detail zu berichten, damit andere daraus lernen konnten. Vielleicht retuschierte er die Realität ein klein wenig, so dass La Boétie edler und mutiger erschien als in Wirklichkeit, vielleicht aber auch nicht. La Boéties Sinn für die klassischen Tugenden ging so tief, dass er fast bis an sein Lebensende seinen philosophischen Vorbildern nacheiferte. «Sein Geist war nach dem Vorbild anderer Zeiten als dieser geformt», schrieb Montaigne.
Aber auch Montaignes Denken entsprach nicht den Konventionen seiner Epoche, und je weiter sein Bericht fortschreitet, desto deutlicher tritt es zutage: seine Skepsis, sein Sinn für das treffende Detail, seine Entschlossenheit, die Ereignisse so zu schildern, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben. Es gibt sogar Momente der Respektlosigkeit. Als er über La Boéties Abschiedsreden schreibt, bemerkt er: «Das ganze Zimmer war angefüllt mit Schreien und Tränen, die doch den Gang seiner Worte nicht unterbrechen konnten. Diese waren ein wenig lang.»
Am nächsten Morgen, es war Montag, verlor La Boétie immer wieder das Bewusstsein und wurde mit Essig und Wein mehrmals ins Leben zurückgeholt. «Seht Ihr jetzt nicht, dass die ganze Hilfe, die Ihr mir zuredet, nur dazu dient, meine Pein zu verlängern?», sagte er vorwurfsvoll. Nach einer solchen Prozedur dämmerte er zeitweilig ganzweg. Das Jammern und Klagen der Menschen um ihn herum, die er nicht sehen konnte, versetzte ihn in Panik. «Mein Gott, wer quält mich so? Warum reißt man mich aus der süßen und schönen Ruhe, in der ich lag? Lasst mich doch, ich bitte Euch.»
Ein Schluck Wein stärkte seine Kräfte, aber jetzt entglitt er immer mehr. «Alle Extremitäten bis zum Gesicht herauf waren bereits eisig, zugleich lief ihm ein tödlicher Schweiß den Körper entlang, und vom Puls konnte man fast gar nichts mehr finden.»
Am Dienstag empfing er die Sterbesakramente und bat den Priester, seinen Onkel und Montaigne, für ihn zu beten. Zwei-, dreimal rief er: «Gut, gut, mag er kommen, wann er will, ich erwarte ihn, den Gevatter, und Gewehr bei Fuß.»
«Auf den Abend begann er, sonst bei gutem Bewusstsein, die Züge des Todes anzunehmen», fährt Montaigne fort. «Als ich zu Nacht aß, ließ er mich rufen: er war nur noch der Schatten und das Bild eines Menschen.» Er delirierte wieder, diesmal mit Vorstellungen, die er Montaigne als «wunderbar, unendlich und unsagbar» beschrieb. Er versuchte, seiner Frau Trost zuzusprechen, und sagte, er habe ihr eine Geschichte zu erzählen. «Aber ich verlasse Euch», sagte er. Als er ihre Panik bemerkte, fügte er hinzu: «Ich verlasse Euch, um zu schlafen.»
Sie verließ das Zimmer. «Mein Bruder, bleibt bei mir, wenn Ihr wollt», bat der Sterbende Montaigne. Es standen immer noch viele Leute im Zimmer. Montaigne nennt sie «alle Anwesenden». In der Renaissance konnte man nichts allein machen, am allerwenigsten sterben. La Boéties Frau war, wie es scheint, die Einzige, die man wegschicken konnte.
Der Sterbende wurde jetzt unruhig. Er warf sich in seinem Bett hin und her und stellte seltsame Forderungen. Montaigne notierte:
Danach bat er mich plötzlich unter anderen Äußerungen wieder und wieder mit äußerster Deutlichkeit, ich möge ihm einen Platz geben; ich fürchtete, dass sein Verstand die Klarheit verloren hätte. Aber obwohl er es sanft zurückwies, dass er sich vom Leben hinreißen ließ, und jene Worte nicht die eines ruhigen Menschen waren, ergab er sich doch nicht sogleich, sondern wiederholte noch dringender: «Mein Bruder, mein Bruder, so versagt Ihr mir einen Platz?» Bis er michzwang, ihn durch die Logik zu überzeugen und ihm zu sagen, da er atme und spreche, müsse er ein körperliches Wesen sein und folglich auch seine Stelle haben. «Gewiss, gewiss», antwortete er, «ich habe eine,
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