Wie soll ich leben?
griechische Kultur nach Rom und in andere Regionen des Mittelmeers auszubreiten begannen. Sie unterscheiden sich in den Details, sind aber in ihren Grundelementen oft nur schwer auseinanderzuhalten. Und auch Montaigne bediente sich ihrer entsprechend seinen Bedürfnissen.
Alle diese Schulen hatten das Ziel der eudaimonia , oft übersetzt mit «Glück», «Glückseligkeit» oder auch «gedeihliches Leben»: gut zu leben, auch im ethisch-moralischen Sinn. Der beste Weg zur eudaimonia war die ataraxia , die Unerschütterlichkeit, Seelenruhe oder Freiheit von Angst. Ataraxie bedeutet, ein Gleichgewicht zu finden. Es ist die Kunst, Extreme zu vermeiden, sich vor Euphorie in guten, aber auchvor Verzweiflung in schlechten Zeiten zu hüten und seine Leidenschaften zu mäßigen, von denen man sich nicht hin- und herreißen lassen dürfe wie ein Knochen, um den sich eine Meute Hunde streitet.
In der Frage jedoch, wie man diese Seelenruhe erlangt, gingen die Ansichten der einzelnen Schulen auseinander. Wie tief sollte man sich auf die reale Welt einlassen? Die von Epikur im vierten vorchristlichen Jahrhundert gegründete epikureische Gemeinschaft etwa forderte ihre Anhänger auf, ihre Familie zu verlassen und sich wie die Mitglieder eines religiösen Kults in einem «Garten» zu versammeln. Die Skeptiker dagegen nahmen am gesellschaftlichen Leben teil, wenngleich mit einer radikal neuen inneren Einstellung. Die Stoiker standen irgendwo dazwischen. Seneca und Epiktet, die bekanntesten stoischen Autoren, schrieben für eine elitäre römische Leserschaft, die ihre Epoche aktiv mitgestaltete und keine Zeit für Gärten hatte, wenngleich sie Oasen der Stille und Zurückgezogenheit suchte.
Stoiker und Epikureer hatten auch viele philosophische Grundgedanken gemeinsam. Nach ihrer Ansicht werde die Fähigkeit zum Lebensgenuss durch zwei große Defizite gemindert: durch die mangelnde Beherrschung der Affekte und durch die Neigung, dem gegenwärtigen Augenblick zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn man diese beiden Probleme in den Griff bekäme, würden sich alle anderen wie von selbst lösen. Allerdings kann man diese Ziele nicht direkt anstreben, sondern muss sich mit Tricks behelfen.
Deshalb entwickelten stoische und epikureische Philosophen vor allem geistige Übungen und Gedankenexperimente. Zum Beispiel: Stell dir vor, heute sei der letzte Tag deines Lebens. Bist du bereit, dem Tod ins Auge zu sehen? Stell dir vor, genau dieser Moment – jetzt! – sei der letzte Augenblick deines Lebens. Was empfindest du bei dieser Vorstellung? Bedauern? Gibt es Dinge, die du gern anders gemacht hättest? Bist du in diesem Augenblick tatsächlich lebendig, oder beherrschen dich Panik, Realitätsflucht oder ein Gefühl der Reue? Dieses Experiment öffnet dir die Augen für das, was dir wirklich wichtig ist, und macht dir bewusst, wie dir die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt.
Einige Stoiker inszenierten diesen «letzten Augenblick» mit großem Aufwand. Seneca erzählte von Pacuvius, einem reichen Mann, der keinen Tag vergehen ließ, ohne dass er sich gleichsam selbst das Totenopferdarbrachte. Nachdem er einen Leichenschmaus inszeniert hatte, ließ er sich mit Musikbegleitung in sein Schlafgemach tragen, dabei sangen seine Sklaven und die Gäste: «Er hat gelebt, er hat gelebt.» Dieselbe Wirkung kann man einfacher und billiger haben, wenn man sich nur die eigene Vergänglichkeit vor Augen führt. Der epikureische Schriftsteller Lukrez empfahl, sich selbst im Augenblick des Todes vorzustellen und zwei Möglichkeiten zu erwägen: erstens, dass man gut gelebt hat. In diesem Fall könne man zufrieden aus der Welt gehen wie ein gesättigter Gast, der ein üppiges Festmahl verlässt. Und zweitens, dass man nicht gut gelebt hat. In diesem Fall machte es keinen Unterschied, ob man sein Leben verliert oder nicht, da man ohnehin nicht weiß, was man damit anfangen soll. Für einen Sterbenden ist das nur ein schwacher Trost. Wenn man aber beizeiten anfängt, darüber nachzudenken, ändert sich der Blick auf das eigene Leben.
Die innere Einstellung zu ändern ist das Ziel vieler philosophischer Gedankenexperimente. Wenn man einen wertvollen Menschen oder ein wertvolles Gut verloren hat, stelle man sich vor, man habe diese Person oder diesen Gegenstand nie besessen. Und wie kann man etwas vermissen, was man nie besessen hat? Plutarch beschrieb dieses Experiment in einem Brief an seine Frau nach dem Tod der gemeinsamen zweijährigen Tochter. Er
Weitere Kostenlose Bücher