Wie soll ich leben?
bisweilen kühl und distanziert gibt, muss man an La Boétie denken. «Lasst das Übrige uns weiter gehören», heißt es in den Essais , «aber keineswegs mit uns so fest verkeilt und verleimt sein, dass wir es nicht mehr entfernen können, ohne uns ins eigne Fleisch zu schneiden und ganze Stücke hiervon mit wegzureißen.» Dies sind die Worte eines Menschen, der weiß, wie sich eine solche Tortur anfühlt.
Zu Lebzeiten La Boéties scheint Montaigne manchmal gegen dessen korrigierenden Einfluss aufbegehrt zu haben, davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Nach dem Tod des Freundes konnte sich Montaigne ihm ohne Einschränkungen anheimgeben – und tun, worum La Boétie ihn gebeten hatte: ihm einen Platz einzuräumen.
Er nahm viele von La Boéties Büchern in seine Bibliothek auf und machte damit unter seinen Besitztümern Platz für seinen Freund. Er schrieb über La Boéties Sterben und Tod und rettete damit das Andenken des Freundes für die Nachwelt. Er bereitete mehrere seiner Schriften zur Veröffentlichung vor. Und als er sich schließlich aus dem öffentlichen Leben zurückzog, machte er den Freund zum Leitstern seiner neuen Lebensform. Der Inschrift, die er aus diesem Anlass an der Wand seiner Bibliothek anbringen ließ, fügte er eine weitere hinzu. Sie ist heute schwer zu entziffern, besagt aber, dass alle seine Bemühungen an dieser «Stätte des Studiums» seinem Freund gewidmet seien, «dem süßesten, liebsten und engsten Freund, […] wie unser Jahrhundert keinen besseren, gelehrteren und vollkommeneren gesehen hat». La Boétie sollte über Montaignes Tun in seiner Bibliothek wachen. Er sollte sein literarischer Schutzengel sein.
Mit seinem Tod verwandelte sich La Boétie von einem lebendigen und keineswegs tadellosen Gefährten Montaignes in ein Idealbild, das Montaigne vollkommen unter seine Kontrolle brachte. La Boétie war jetzt kein Mensch mehr, sondern eine philosophische Technik. Seneca hatte seinen Anhängern empfohlen, sich einen «hervorragend tüchtigen Mann als Muster» zu suchen und immer vor Augen zu haben, «umso zu leben, als schaue er auf uns, und immer so zu handeln, als hielte er seinen Blick auf uns gerichtet». Wer für sich selbst leben will, schrieb er, müsse für einen anderen leben, vor allem für den auserwählten Freund.
Montaigne war bereit, auf solche Tricks zurückzugreifen, wenn sie Trost versprachen. Wie er in einer seiner Widmungen anlässlich der Veröffentlichung von La Boéties nachgelassenen Schriften bekannte: «Er wohnt noch so ganz und so lebhaft bei mir, dass ich ihn weder so steif begraben noch so fern von unserem Dasein glauben kann.» La Boétie an seiner Seite weiterleben zu lassen war die Erfüllung des Wunsches, den der sterbende Freund noch hatte, und zugleich linderte es Montaignes eigene Einsamkeit. Dazwischen griff er zu Strategien der Zerstreuung und Ablenkung, um über den Verlust hinwegzukommen. Die beste Therapie jedoch war für ihn das Schreiben. Indem er die Schilderung von La Boéties Sterben der Nachwelt übermittelte, führte er sich selbst alles noch einmal vor Augen und bewältigte damit den Verlust. Ganz verwand er ihn nie, aber er lernte, ohne den Freund in dieser Welt zu leben, und änderte damit seine eigene Existenzform. Über La Boétie zu schreiben gab ihm schließlich den Anstoß, die Essais zu verfassen. Das war der beste philosophische Trick überhaupt.
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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Bediene dich kleiner Tricks!
Einübung in die Kunst des Lebens
Von der akademischen Philosophie hielt Montaigne nicht besonders viel, er hatte eine Abneigung gegen ihre Spitzfindigkeiten und Abstraktionen. Einer anderen philosophischen Tradition dagegen fühlte er sich sein Leben lang verbunden: den großen pragmatischen Schulen der antiken Philosophie, die sich mit praktischen Fragen der Lebensführung auseinandersetzten: wie man über den Tod eines Freundes hinwegkommt, wie man seinen Mut stärkt, wie man in einer moralisch schwierigen Situation recht handelt oder wie man aus seinem Leben das Beste machen kann. Das war die Philosophie, der er sich in Zeiten der Trauer oder Angst zuwandte und bei der er Hilfe im Umgang mit geringfügigeren Alltagsproblemen suchte.
Die drei bekanntesten dieser philosophischen Schulen waren Stoizismus, Epikureismus und Skeptizismus, jene Strömungen, die man kollektiv als hellenistische Philosophie bezeichnet. Ihre Wurzeln liegen im 3. Jahrhundert v. Chr., als sich das griechische Denken und die
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