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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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gegenteiligen verdrängen, so zumindest durch einen andern. Jede Veränderung tut wohl und erleichtert, löst und zerstreut. Wenn ich aber den Gedanken nicht niederzukämpfen vermag, entwische ich ihm, und auf der Flucht schlage ich Haken und überliste ihn.
    Derselben Methode bediente er sich auch anderen gegenüber. Als er einmal eine Frau zu trösten versuchte, die (anders als so manche Witwe, scheint er sagen zu wollen) aufrichtig um ihren verstorbenen Mann trauerte, erwog er zunächst die gängigen philosophischen Techniken: ihr klarzumachen, dass mit Klagen und Jammern nichts gewonnen sei, oder ihr einzureden, sie habe ihren Mann nie gekannt. Doch dann griff er zu einer anderen Taktik und lenkte «unser Gespräch ganz sanft, Schritt um Schritt erst auf die nächstliegenden Dinge, dann […] auf etwas weiter abliegende». Die Witwe schien dem zunächst wenig Aufmerksamkeit zu schenken, doch am Ende ließ sie sich ablenken. «Solcherart befreite ich sie, ohne dass sie es gewahr wurde, von ihren quälenden Gedanken und versetzte sie in einen ruhigen, völlig entspannten Zustand, der auch anhielt, solang ich bei ihr war.» Er wusste zwar, dass erdamit ihren Kummer nicht aus der Welt geschafft hatte, trotzdem überwand sie auf diese Weise die akute Krise, und die Zeit tat ein Übriges.
    Einige dieser Tricks kannte Montaigne aus seiner Lektüre der Epikureer, andere aus eigener bitterer Erfahrung. «Ich wurde einst von einem mächtigen Schmerz ergriffen», schrieb er, sicherlich mit Blick auf La Boétie. Der Tod des Freundes hätte ihn zerstört, wenn er nicht darauf vertraut hätte, dass die Kraft der Vernunft ihn rettete. Er erkannte, dass er «eine starke Ablenkung» brauchte, und beschloss, sich «nach allen Regeln der Kunst zu verlieben». Er sagt uns nicht, in wen, und es scheint wohl eine eher belanglose Affäre gewesen zu sein, aber sie entriss ihn seinem akuten Schmerz.
    Ähnliche Tricks funktionierten auch bei einem anderen unwillkommenen Affekt: dem Zorn. Montaigne kurierte einmal einen «jungen Fürsten», wahrscheinlich Heinrich von Navarra, den späteren König Heinrich IV., von gefährlichen Rachegelüsten. Er redete ihm sein Gefühl nicht aus, er riet ihm auch nicht, die andere Wange hinzuhalten, noch führte er ihm die tragischen Folgen der Rache vor Augen, sondern er erwähnte die Rachegelüste überhaupt nicht.
    Vielmehr ließ ich sie auf sich beruhn und ging eifrigst daran, ihm die Schönheit der entgegengesetzten Vorstellung schmackhaft zu machen: Welche Ehre nämlich, welchen Beifall und welches Wohlwollen er sich durch Milde und Güte erwerben könne. Ich lenkte also seinen Rachedurst auf die Ehrliebe ab. So muss man’s machen!
    Später wandte Montaigne den Trick der Ablenkung an, um seine Angst vor Alter und Tod zu bekämpfen. Die Jahre brachten ihn dem Tod immer näher. Das war unausweichlich, und das einzige Mittel war, nicht nach vorne zu schauen. Also wandte er sich in die Vergangenheit zurück und gewann dadurch Trost, dass er voll Heiterkeit auf seine Kindheit und Jugend zurückblickte. Auf diese Weise, sagte er, sei es ihm gelungen, seinen Blick «von diesem wolken- und gewitterschweren Himmel [abzuwenden], der sich vor mir türmt.»
    Er schätzte diese Techniken der Ablenkung so hoch ein, dass er sogar politische Taschenspielertricks bewunderte, solange sie nicht derTyrannenherrschaft dienten. Er erzählte die Geschichte, auf welche Weise Zaleukos, der Fürst der Lokrer im alten Griechenland, überflüssigen Luxus in seinem Reich einschränkte. Er ordnete an, dass eine Dame nur dann mehrere Kammerfrauen in ihrem Gefolge haben dürfe, wenn sie betrunken ist, und dass sie so viel Goldschmuck und bestickte Gewänder tragen dürfe, wie sie wolle, aber nur, wenn sie als Prostituierte ihre Dienste feilbot. Ein Mann konnte Goldringe tragen, so viel er wollte – wenn er ein Zuhälter war. Und es funktionierte: Goldschmuck und große Gefolge waren über Nacht verschwunden. Niemand lehnte sich dagegen auf, weil niemand das Gefühl hatte, zu etwas gezwungen worden zu sein.
    Aus seiner eigenen Erfahrung der Todesnähe hatte Montaigne gelernt, dass das beste Mittel gegen die Todesfurcht das Vertrauen in die Natur war: «Grübelt also nicht darüber nach.» Das galt auch für die Bewältigung der Trauer. Die Natur folgt ihrem eigenen Rhythmus. Der Trick, sich abzulenken, funktioniert, weil er der menschlichen Natur entspricht. «Im Augenblick des Todes denken wir stets an andres.» Es ist nur

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