Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
Vom Netzwerk:
mit derselben Geschwindigkeit wie schon einmal über den Himmel ziehen. Auch man selbst würde noch einmal leben, mit denselben Gedanken und Gefühlen wie schon einmal, immer und immer wieder, in unendlicher Wiederholung. Diese auf den ersten Blick erschreckende Vorstellung war tröstlich, weil sie einem die eigenen flüchtigen Sorgen und Probleme in einem anderen Licht zeigte. Gleichzeitig aber war alles von Bedeutung, weil alles, was man jemals getan hatte, wiederkehrte. Nichts verschwand und ging verloren, nichts konnte vergessen werden. Solche Überlegungen zwangen einen dazu, der alltäglichen Lebenspraxis mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sie waren eine Herausforderung, führten aber auch zu einer grundsätzlichen Lebensbejahung. Die Stoiker nannten dies amor fati , Schicksalsergebenheit. Wie der Stoiker Epiktet schrieb:
    Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern sei zufrieden, dass es so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Ruhe leben.
    Man solle in der Lage sein, alles so hinzunehmen, wie es kommt, bereitwillig und ohne den müßigen Wunsch, die Dinge zu ändern. Montaigne schien dies leichtgefallen zu sein, es entsprach seinem Naturell. «Wenn ich noch einmal zu leben hätte», schrieb er, «würde ich wieder leben, wie ich gelebt habe.» Aber die meisten Menschen mussten sich diese Haltung mühsam antrainieren.
    Seneca wandte einen extremen Trick an, um amor fati zu praktizieren. Als Asthmatiker wurde er immer wieder von schweren Erstickungsanfällen geplagt. Oft hatte er das Gefühl, dem Tod nahe zu sein, aber er lernte es, die Atemnot als eine philosophische Übung zu betrachten. Wenn sich ihm die Kehle zuschnürte und er nach Luft rang, versuchte er, sich damit abzufinden und sein Schicksal zu bejahen. Er sprach sich dann unaufhörlich zu, den Tod selbst zu wollen, selbst sterben zu wollen. War der Anfall vorüber, fühlte er sich gestärkt, denn er hatte mit der Angst gekämpft und sie niedergerungen.
    Die Stoiker waren darauf bedacht, das, wovor sie sich am meisten fürchteten, geistig einzuüben. Die Epikureer waren eher geneigt, den Blick von den schrecklichen Dingen abzuwenden und sich auf das Positive zu konzentrieren. Ein Stoiker verhält sich wie einer, der seine Bauchmuskeln anspannt und seinen Gegner auffordert, ihn mit Faustschlägen zu traktieren. Ein Epikureer versucht, solchen Schlägen auszuweichen und dem Unglück aus dem Weg zu gehen. Wenn Stoiker Boxer sind, dann praktizieren Epikureer eher die fernöstlichen Kampftechniken.
    Montaigne empfand in den meisten Situationen den epikureischen Ansatz als ihm gemäßer. Er beneide Geisteskranke, sagte er, weil ihre Gedanken immer anderswo seien – eine extreme Form der epikureischen Ablenkung. Was machte es schon, wenn ein Verrückter eine verzerrte Vorstellung von der Welt hatte, solange er dabei glücklich war? Montaigne führte Beispiele aus der Antike an, etwa die Geschichte des Lykas, der ein ganz normales Leben führte und sich alles Unangenehme dadurch vom Leib hielt, dass er sich vorstellte, er befände sich auf einer Theaterbühne und erlebe eine Aufführung. Als ihn ein Arzt von seiner Täuschung heilte, fühlte er sich so elend, dass er den Arzt fast vor Gericht gebracht hätte, weil er ihm seine behagliche Phantasiewelt genommen hatte. Ähnlich wiegte sich Thrasylaos im Glauben, dieSchiffe, die im Hafen seiner Stadt Piräus ein- und ausliefen, stünden in seinem Dienst und brächten ihm wertvolle Fracht. Er war glücklich und freute sich jedesmal, wenn ein Schiff sicher in den Hafen einlief, und es schien ihn weiter nicht zu beschäftigen, dass diese Waren ihn nie erreichten. Doch dann brachte sein Bruder Kriton ihn zur Vernunft, und seither war er nur noch traurig.
    Nicht jedem ist es vergönnt, geistig krank zu sein, aber jeder Mensch kann sich das Leben einfacher machen, indem er den Lichtstrahl der Vernunft ein wenig umlenkt. Besonders in Zeiten der Trauer jedoch erkannte Montaigne, dass Ablenkung seinen Schmerz nicht lindern konnte. Er versuchte es mit stoischen Tricks und schreckte auch nicht davor zurück, sich so intensiv auf La Boéties Tod zu konzentrieren, dass er schließlich einen Bericht über sein Sterben verfasste. In der Regel allerdings fand er es hilfreicher, seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken:
    Ein quälender Gedanke bedrängt mich – und schon habe ich ihn ausgetauscht, denn das finde ich einfacher, als ihn zu bändigen: Kann ich ihn nicht durch einen

Weitere Kostenlose Bücher