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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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empfahl ihr, sich in die Zeit zurückzuversetzen, da das Kind noch nicht geboren war. Ob Plutarchs Gattin auf diese Weise leichter über den Tod ihres Kindes hinwegkam, ist nicht bekannt, doch zumindest wurden ihre Gedanken auf etwas anderes gelenkt, und sie versank nicht mehr im tiefen Meer der Trauer. Montaigne und La Boétie kannten Plutarchs Trostschrift an die Gattin . La Boétie hatte sie ins Französische übersetzt, und Montaigne hatte diese Übersetzung zur Veröffentlichung vorbereitet. Vielleicht erinnerte sich Montaigne nach dem Tod seiner eigenen Kinder oder nach dem Verlust La Boéties an diesen Text. Die Freundschaft mit La Boétie war von so kurzer Dauer gewesen, dass es ihm nicht schwergefallen sein dürfte, sich in die Zeit vor der Begegnung mit dem Freund und in seine alte Unbeschwertheit zurückzuversetzen.
    Solche Tricks der Einbildungskraft können in ganz alltäglichen, aber auch in extremen Lebenssituationen angewandt werden, und sie sind ein Hilfsmittel selbst gegen undramatische Langeweile und Überdruss.Wenn man dessen überdrüssig ist, was man besitzt, so Plutarch, solle man sich vorstellen, man habe alles verloren. «Über all dieses werden wir uns umso mehr freuen, wenn wir uns vorstellen, dass wir es entbehren müssten», sei es ein schöner Teller, ein Freund, eine Geliebte oder das Glück, in friedlichen Zeiten zu leben und sich guter Gesundheit zu erfreuen. Diese Übung bewirkt wahre Wunder. Das Prinzip ist dasselbe wie beim Nachdenken über den Tod: Erst wenn man etwas verloren hat, erkennt man dessen wahren Wert.
    Der Schlüssel liegt in der Einübung von prosoché , der auf den Augenblick gerichteten Aufmerksamkeit, ein weiterer Schlüsselbegriff der hellenistischen Philosophie und ein Trick, der vielen anderen Techniken zugrunde liegt. Es ist der Aufruf zu Achtsamkeit für die innere und damit zu größerer Aufmerksamkeit für die äußere Welt. Denn unkontrollierte Affekte trüben den Blick für die Wirklichkeit genauso, wie Tränen das Bild verschleiern. Wer seinen Blick schärft und sich in die Betrachtung der Welt in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit versenkt, sagt Seneca, könne des Lebens niemals überdrüssig werden.
    Ein Mensch, der nicht schlafwandlerisch, sondern mit offenen Augen durch die Welt geht, kann auf Situationen unmittelbar reagieren, als wären es plötzlich an ihn gerichtete Fragen, wie es Epiktet formulierte. Ein gewalttätiger Angriff, ein Streit, der Tod eines Freundes: all das sind Herausforderungen des Leben, vergleichbar den Fragen, wie sie ein Lehrer einem unaufmerksamen Schüler stellt. Selbst ein Moment des Überdrusses kann eine solche Frage sein. Was immer auch geschieht und wie überraschend es auch immer geschieht, man sollte stets in der Lage sein, angemessen zu reagieren. Wenn also der Mensch lernt, «recht zu leben» (vivre à propos) , hat er das «große und leuchtende Meisterwerk» vollbracht, wie Montaigne sagt.
    Stoiker und Epikureer versuchten dieses Ziel vorrangig durch geistiges Training und Meditationsübungen zu erreichen. Wie ein Tennisspieler stundenlang Volleys und Aufschläge übt, so trainierten sie ihren Geist für bestimmte Praktiken, bis ihnen diese Übungen leicht und ganz natürlich vorkamen. Es war eine Art Selbsthypnose. Der große römische Stoiker und Kaiser Mark Aurel etwa hielt in Notizbüchern fest, welche veränderten Blickwinkel er sich antrainieren wollte:
    Wie man bei Fleischgerichten und anderen Esswaren derart denken soll: das ist nur der Leichnam eines Fisches oder der eines Vogels oder eines Schweins, und ebenso beim Falernerwein: das ist nur der ausgedrückte Saft einer Traube, oder beim Purpur: er ist nichts als Schafwolle, in das Blut einer Schnecke getaucht, und beim Geschlechtsakt: es ist nur die Reibung eines Gliedes und Ausscheidung von Schleim, mit Zuckungen verbunden.
    Oder er stellte sich vor, über der Erde zu schweben, von oben auf die Welt der Menschen zu blicken und zu sehen, wie unbedeutend alles ist. Das tat auch Seneca: «Stelle dir die Unendlichkeit der unergründlichen Zeit vor und umfasse das Ganze, sodann vergleiche das sogenannte menschliche Lebensalter mit dieser Unendlichkeit.»
    Eine andere Übung der Stoiker bestand darin, sich bildhaft vorzustellen, wie die Zeit äonenlang um sich selbst kreist. Auf diese Weise würde Sokrates wiedergeboren werden und in Athen lehren, wie schon einmal. Jeder Schmetterling würde auf die gleiche Weise wie zuvor mit den Flügeln schlagen und jede Wolke

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