Wie soll ich leben?
natürlich, dass wir uns ablenken lassen und damit sowohl vom Schmerz als auch vom Vergnügen «kaum auch nur deren äußerste Schale berühren». Wir müssen uns nur unserer Natur überlassen.
Seiner Lektüre der Stoiker und Epikureer entnahm Montaigne alles, was ihm hilfreich sein konnte, so wie seine Leser den Essais stets das entnahmen, was ihnen von Nutzen war, und den Rest einfach außer Acht ließen. Seine Zeitgenossen konzentrierten sich insbesondere auf die stoischen und epikureischen Passagen. Sie interpretierten sein Werk als Handbuch der Lebenspraxis und feierten ihn als einen Philosoph alten Stils, der es mit den Großen der Antike aufnehmen konnte. Sein Freund Étienne Pasquier nannte ihn «einen Seneca unserer Sprache». Florimond de Raemond, ein Freund und Kollege aus Bordeaux, lobte Montaignes Tapferkeit angesichts der Prüfungen des Lebens und riet den Lesern, vor allem in der Frage des Umgangs mit Tod und Sterben bei ihm Rat zu suchen. In einem Sonett, das 1595 zusammen mit einer Ausgabe der Essais veröffentlicht wurde, lobte Claude Expilly Montaigne als «großmütigen Stoiker» und fand lobende Worte für sein unerschrockenes Schreiben, seine Furchtlosigkeit undseine Fähigkeit, schwache Seelen zu stärken. Montaignes mutige Essais würden auch in den kommenden Jahrhunderten gerühmt werden, so Expilly, denn wie die antiken Autoren lehre auch Montaigne die Menschen, «wie man gut sprechen soll, gut leben, gut sterben».
Hier vermittelt sich schon eine Ahnung davon, welche Wandlungen Montaigne im Laufe der Jahrhunderte erleben würde, da jede Generation ihn als Quelle der Weisheit und Erleuchtung neu für sich entdeckte. Jede Generation fand bei ihm mehr oder weniger das, was sie erwartete, und oft auch das, was sie selbst hineinlegte. Montaignes erste Leser lebten in der Spätrenaissance, einer Epoche, in der Neostoiker und Neoepikureer sich mit der Frage nach dem rechten Leben beschäftigten und in einer leidvollen Welt nach eudaimonia strebten. Sie betrachteten ihn als einen der Ihren, machten sein Buch zu einem Bestseller und legten damit das Fundament für seinen Ruhm als pragmatischer Philosoph und als Lehrer der Lebenskunst.
Montaigne in der Knechtschaft
Dass Montaigne La Boétie in sich aufnahm wie einen guten Geist oder wie jemanden, der insgeheim an allem Anteil nimmt, was er tat, scheint seinem Plan zu widersprechen, sich von seiner Trauer abzulenken. Aber in gewisser Weise war auch dies eine Form der Ablenkung, die ihn vom Nachdenken über den erlittenen Verlust zu einer neuen Sichtweise des eigenen Lebens führte. Er konnte jetzt jederzeit von seinem eigenen Standpunkt zu dem Standpunkt wechseln, den La Boétie eingenommen hätte. Vielleicht brachte ihn das auf den Gedanken, dass wir, «wie soll ich sagen, in uns selber doppelt» sind.
Montaigne selbst sagte, er hätte die Essais nie geschrieben, wenn sich dieser Raum der inneren Zwiesprache nicht in ihm geöffnet hätte. Wenn er, wie er schreibt, «zu jemandem hätte sprechen können», hätte er lediglich Briefe verfasst, eine sehr viel konventionellere literarische Form. Stattdessen musste er den Dialog zwischen sich und La Boétie in seinem eigenen Innern führen. Der Kritiker Anthony Wilden verglich diese Konstellation mit der dialektischen Beziehung zwischen Herrn und Knecht in der Hegel’schen Philosophie. La Boétie wurde Montaignesimaginärer Herr, der ihm befahl zu arbeiten, Montaigne wiederum wurde zum willigen Knecht, der durch die Mühsal des Schreibens ihrer beider Lebensunterhalt verdiente: eine Form der «freiwilligen Knechtschaft». Aus ihr gingen die Essais hervor, fast als ein Nebenprodukt von Montaignes Bemühen, mit Kummer und Einsamkeit zurechtzukommen.
La Boéties Tod ließ Montaigne wohl tatsächlich in einer Art literarischen Knechtschaft zurück, allerdings einer, die sich in Stapeln von unveröffentlichten Manuskripten La Boéties materialisierte. Diese Werke waren nicht außergewöhnlich oder originell, ausgenommen die Schrift Von der freiwilligen Knechtschaft (wenn man davon ausgeht, dass sie tatsächlich von La Boétie stammt). Aber sie hatten etwas Besseres verdient, als zu Staub zu zerfallen. Sei es, weil La Boétie ihn darum gebeten hatte, sei es aus eigener Initiative, jedenfalls fiel Montaigne bei der Verbreitung der Werke seines Freundes eine entscheidende Rolle zu, die seiner eigenen literarischen Karriere auf die Sprünge half.
La Boéties Manuskripte scheinen nach seinem Tod in einem sehr
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