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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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fasziniert hatten. Viele von ihnen entnahm er Plutarch. Sie waren unterhaltsam und hatten dennoch eine tiefere Bedeutung. Sie erzählten von der Klugheit und Sensibilität von Tieren und demonstrierten, dass der Mensch keineswegs über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt und dass Tiere vieles besser können als Menschen.
    Tiere können beispielsweise gut zusammenarbeiten. Rinder, Schweine und andere Tiere bilden Gruppen, um sich zu verteidigen. Wenn ein Seepapagei einem Fischer an den Haken geht, eilen seine Artgenossen herbei, um die Schnur durchzubeißen und ihn zu befreien. Oder sie stoßen den Schwanz durch das Netz, damit sich der gefangene Fisch daran festbeißen und herausgezogen werden kann. Selbst unterschiedliche Spezies kooperieren auf diese Weise, beispielsweise der Lotsenfisch, der den Wal führt, oder der Vogel, der sich aus dem Rachen des Krokodils Nahrung herauspickt.
    Thunfische beweisen umfassende Kenntnisse der Astronomie: Zur Wintersonnenwende unterbricht der Schwarm seinen Zug durch die Ozeane da, wo er sich gerade befindet, und bleibt bis zur nächsten Tagundnachtgleiche an dieser Stelle. Sie beherrschen auch Geometrie und Arithmetik, da sie sich zu einem Würfel formieren können, dessen sechs Außenflächen alle gleich groß sind.
    Auch in moralischer Hinsicht sind Tiere dem Menschen mindestens ebenbürtig. Welcher Mensch übertrifft jenen Elefanten an Einsicht und Reue, der, nachdem er in einem Wutanfall seinen Wärter getötet hatte, nichts mehr fraß und verhungerte? Und wer das Weibchen desEisvogels, das sich das gebrechliche Männchen treu auf seine Schultern lädt und bis an dessen Lebensende umsorgt? Diese liebevollen Eisvögel verfügen auch über technisches Geschick: Aus Fischgräten bauen sie ein Gefüge, das Nest und Boot zugleich ist, und untersuchen es am Meeresufer auf Lecks, bevor sie es ins offene Meer lassen.
    Tiere sind uns in den unterschiedlichsten Fähigkeiten überlegen. Menschen wechseln die Gesichtsfarbe, aber unwillkürlich. Wir erröten, wenn wir verlegen sind, und werden blass vor Schreck. Damit stehen wir auf einer Stufe mit dem Chamäleon, das sich passiv der Farbe seiner Umgebung anpasst, aber weit unterhalb des Tintenfischs, der seine Farbe nach Belieben verändern kann. Wir Menschen und die Chamäleons können den Tintenfisch nur bewundern – seine Fähigkeit ist ein Schock für die Selbstherrlichkeit des Menschen.
    Trotzdem betrachten wir Menschen uns als allen anderen Lebewesen überlegen und den Göttern näher als den Chamäleons oder dem Seepapagei. Es fällt uns gar nicht ein, uns in eine Reihe mit anderen Tieren zu stellen oder zu versuchen, uns in sie hineinzuversetzen. Ja, wir fragen uns sogar, ob sie überhaupt Geist haben. Doch Montaigne genügt es, einen dösenden Hund zu beobachten, um zu erkennen, dass er eine Vorstellungswelt hat wie der Mensch. Ein Mensch, der von Rom oder Paris träumt, lässt in seinem Geist ein immaterielles Rom oder Paris erstehen. Ähnlich sieht im Schlaf ein Hund einen immateriellen Hasen, der durch seinen Traum läuft; seine Pfoten zucken, als würde er ihn jagen. Für den Hund ist es ein Hase, wenn auch «ein Hase ohne Knochen und Fell». Tiere bevölkern ihre Vorstellungswelt mit ihren eigenen Geistern, genau wie wir Menschen.
    Für Montaignes erste Leser waren seine Tiergeschichten so unterhaltsam wie harmlos, bestenfalls von moralischem Nutzen und ein Beleg dafür, dass Menschen begrenzte Wesen sind, die sich nicht einbilden dürfen, auf Gottes großer weiter Welt viel zustande zu bringen oder zu verstehen. Doch mit dem aufkommenden 17. Jahrhundert erschien das Bild des Menschen, der in seiner Komplexität und seinen Fähigkeiten einem Tintenfische vergleichbar ist, eher verstörend: nicht nur demütigend, sondern herabwürdigend. In den 1660er Jahren wurde die «Apologie für Raymond Sebond», in der sich die meisten dieser Tiergeschichten finden, nicht mehr als ein Schatzkästlein erbaulicherWeisheit betrachtet, sondern als eine Fallstudie all dessen, was im Jahrhundert zuvor in moralischer Hinsicht schiefgelaufen war. Montaignes beiläufige Akzeptanz der Unzulänglichkeit und der «tierhaften» Seite des Menschen erschien jetzt als etwas, das bekämpft werden musste, ja fast als eine List des Teufels.
    Ein typisches Beispiel für diese neue Einstellung ist eine Invektive des Bischofs Jacques-Bénigne Bossuet im Jahr 1668 von der Kanzel herab. Montaigne, sagte er,
    ziehe die Tiere dem Menschen vor, ihren

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