Wie soll ich leben?
zuschnappend mich verschlingt und mit einem schweren, völlig fühl- und schmerzlosen Schlaf überwältigt.» Theologen des 17. Jahrhunderts erschraken über diese Gottlosigkeit. Auch an Jesus Christus zeigte Montaigne kein Interesse. Er schrieb über den erhabenen Tod von Sokrates und Cato, dachte aber nicht daran, die Kreuzigung Christi auch nur zu erwähnen. Ihm lag mehr an der weltlichen Moral, an dem Problem der Gnade und Grausamkeit. Wie der Kritiker David Quint meinte, würde Montaigne die Botschaft der Kreuzigung Christi für die Menschheit wahrscheinlich so formulieren: «Kreuzigt niemanden!»
Andererseits ist es sehr unwahrscheinlich, dass Montaigne ein eingefleischter Atheist war; im 16. Jahrhundert war das so gut wie niemand. Und es wäre auch keine Überraschung, hätte er sich tatsächlich zum Fideismus hingezogen gefühlt. Der Fideismus entsprach sowohl seiner Philosophie der Skepsis als auch seinem Naturell. Denn obwohl er die Unabhängigkeit liebte, überließ er vieles sich selbst, insbesondere Dinge, die ihn nicht weiter interessierten. Was auch immer er über den weltentrückten Gott des Fideismus dachte: Das Geschehen auf der Erde faszinierte ihn weitaus mehr.
Das Ergebnis jedenfalls war, dass er nie ernsthaft mit der Kirche in Konflikt geriet: eine beachtliche Leistung für jemanden, der so frei und offen schrieb, der im Grenzbereich zwischen Protestantismus und Katholizismus lebte und zur Zeit der Religionskriege ein öffentliches Amt bekleidete. Als er in den 1580er Jahren nach Italien reiste, inspiziertendie Inquisitionsbeamten die Essais und erstellten eine Liste mit geringfügigen Einwänden. Ein Vorwurf lautete, er habe das Wort fortune , Schicksal, anstelle von «Vorsehung» verwendet. (Die Vorsehung stammt von Gott und lässt Raum für den freien Willen; das Schicksal ist nur die Art und Weise, in der ein Keks zerbröselt.) Weiter kritisierte die Inquisition, er habe in den Essais ketzerische Dichter namentlich angeführt und Kaiser Julian Apostata in Schutz genommen; er halte alle anderen Todesstrafen außer einer einfachen Hinrichtung für grausam und befürworte eine freie und natürliche Kindererziehung. Nicht beanstandet wurden allerdings seine Ansichten über den Tod, seine Vorbehalte gegenüber Hexenprozessen und – am allerwenigsten – sein Skeptizismus.
Tatsächlich war es (neben Stoizismus und Epikureismus) der Skeptizismus, der die Essais bei ihrer Erstveröffentlichung so erfolgreich machte. Er fand sowohl bei nachdenklichen, geistig unabhängigen Lesern als auch bei streng orthodoxen Kirchenmännern Anklang. Und auch Montaignes Kollege in Bordeaux, Florimond de Raemond, schätzte ihn hoch ein. Er war ein glühender Katholik, der sich in seinen eigenen Schriften mit der bevorstehenden Ankunft des Antichristen und der Apokalypse beschäftigte. Raemond empfahl die Lektüre der Essais , um sich gegen die Häresie zu wappnen, und lobte insbesondere die «großartige Apologie» aufgrund ihrer vielen Anekdoten, die belegen, wie wenig wir über die Welt wissen. Mehrere dieser Geschichten nahm er in sein eigenes Werk L’Antichrist auf, in ein Kapitel unter der Überschrift «Merkwürdige Dinge, für die wir den Grund nicht kennen». Warum, so fragt er, beruhigt sich ein wütender Elefant, wenn er ein Schaf sieht? Warum wird ein wilder Stier zahm, wenn er an einen Feigenbaum gebunden wird? Und wie genau setzt sich der Schiffshalter-Fisch am Rumpf eines Schiffes fest, um es zum Stillstand zu bringen? Raemond klingt so positiv gestimmt und so ehrlich erstaunt über diese Naturwunder, dass man nur schwer glauben kann, dass er vom nahen Weltuntergang überzeugt war. Der Fideismus trieb in der Tat merkwürdige Blüten: Extremisten und säkulare Gemäßigte verband das Bedürfnis, über ihre eigene Unwissenheit zu staunen.
Und so wurde der frühe Montaigne von den Orthodoxen als frommer, skeptischer Philosoph, als neuer Pyrrhon und als neuer Senecarezipiert: als der Verfasser eines Werks, das gleichzeitig tröstend und moralisch erbaulich war. Am Ende des 17. Jahrhunderts dagegen wurde er abgelehnt; die Kirche setzte die Essais auf den Index der verbotenen Bücher, wo sie fast hundertachtzig Jahre blieben.
Alles begann mit der Debatte über ein Thema, das auf den ersten Blick eher unbedeutend erscheint: Tiere.
Tiere und böse Geister
Montaignes bevorzugte Taktik zur Unterminierung der menschlichen Eitelkeit war es, jene Tiergeschichten zu erzählen, die Florimond de Raemond so
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