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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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Instinkt unserer Vernunft, ihre simple, unschuldige und schlichte Natur […] unserer Kultiviertheit und unseren Boshaftigkeiten. Doch jetzt sag mir, du raffinierter Philosoph, der du den Menschen mit solcher Überlegenheit verlachst, weil er sich höher stellt [als ein Tier], erachtest du es für nichts, Gott zu erkennen?
    Der herausfordernde Ton war neu, ebenso die Vorstellung, die Menschenwürde müsse gegen einen «raffinierten» Feind verteidigt werden. Das 17. Jahrhundert betrachtete Montaigne nicht mehr als einen Philosophen, sondern als einen Betrüger und Umstürzler. An Montaignes Tiergeschichten und seiner Entlarvung der menschlichen Anmaßung nahmen zwei der größten neuzeitlichen Denker Anstoß: René Descartes und Blaise Pascal. Sie hegten keinerlei Sympathie füreinander, und deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass sie sich in der Ablehnung Montaignes einig waren.
    René Descartes, der bedeutendste Philosoph der frühen Neuzeit, interessierte sich für Tiere hauptsächlich als Gegenbild zum Menschen. Menschen haben ein immaterielles Bewusstsein. Sie können über ihre Erfahrungen reflektieren und sagen: «Ich denke.» Tiere nicht. Für Descartes waren sie deshalb seelenlose Maschinen, darauf programmiert, zu gehen, laufen, schlafen, gähnen, niesen, jagen und brüllen, sich zu kratzen, Nester zu bauen, ihren Nachwuchs großzuziehen, zu essen und zu defäkieren, aber alles wie ein aufgezogener Automat, der über den Fußboden taumelt. Für Descartes hat ein Hund keine eigene Sicht der Dinge, er verfügt über keine wirkliche Erfahrung. Er erschafft sich in seiner Vorstellungswelt keinen Hasen, den er in seinen Träumen über die Felder jagt, da kann er schnüffeln und mit den Pfoten zucken,so viel er will. Descartes sah in ihm nicht mehr als kontrahierende Muskeln und feuernde Neuronen, ausgelöst durch gleichermaßen mechanische Gehirnaktivitäten.
    Montaigne und seine Katze, Aquatinta-Radierung von Arthur Ditchfield, um 1867
    Descartes kann mit einem Tier keinen Blick tauschen, Montaigne schon. In einer bekannten Passage der Essais heißt es: «Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?» Und er fügt hinzu: «Die närrischen Spiele, mit denen wir uns vergnügen, sind wechselseitig: Ebenso oft wie ich bestimmt sie, wann es losgehn oder aufhören soll.» Er macht sich die Perspektive der Katze, die ihn betrachtet, genauso zu eigen, wie er seine eigene Perspektive ihr gegenüber einnimmt.
    Montaignes kleines kommunikatives Spiel mit seiner Katze zählt zu den hinreißendsten Passagen der Essais – und zu einer der bedeutendsten. Sie belegt Montaignes Überzeugung, dass alle Lebewesen in einer gemeinsamen Welt leben und dass jede Kreatur ihre ganz eigeneWahrnehmung dieser Welt hat. «Der ganze Montaigne steckt in diesem hingeworfenen Satz», meint Herbert Lüthy. Montaignes Katze ist so berühmt, dass sie den Anstoß zu einem wissenschaftlichen Aufsatz gab und zu einem Eintrag in Philippe Desans Dictionnaire de Montaigne .
    Montaignes Fähigkeit, zwischen verschiedenen Perspektiven hin- und herzuspringen, wird ganz besonders deutlich, wenn er über Tiere schreibt. Uns falle es schwer, sie zu verstehen, bemerkt er, aber ihnen müsse es genauso schwerfallen, uns zu verstehen. «Diese Unfähigkeit zur Kommunikation zwischen ihnen und uns – warum sollte sie nicht ebenso unsere sein wie ihre?»
    Wir können uns in die Empfindungen der Tiere ungefähr in gleichem Maße hineindenken wie sie sich in die unsren. Sie fordern uns etwas ab, sie schmeicheln uns, sie drohen uns – und wir ihnen.
    Montaigne kann seine Katze nicht betrachten, ohne zu denken, dass auch sie ihn betrachtet, und ohne sich vorzustellen, wie er sie betrachtet. Diese Kommunikation zwischen unvollkommenen, einander bewusst wahrnehmenden Lebewesen unterschiedlicher Spezies wäre bei Descartes undenkbar. Er und andere seiner Zeitgenossen waren von dieser Vorstellung eher irritiert.
    Descartes’ philosophischer Denkansatz brauchte einen Punkt der absoluten Gewissheit, den er in der Idee eines klaren, reinen Bewusstseins fand. Da war kein Platz für Montaignes alle Grenzen verwischenden Uneindeutigkeiten: für Reflexionen über einen geistig verwirrten oder tollwütigen Sokrates oder die überlegenen Sinnesorgane eines Hundes. Die Komplikationen, die Montaigne Vergnügen bereiteten, versetzten Descartes in Panik. Und doch entsprang paradoxerweise Descartes’ Streben nach einem

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