Wie soll ich leben?
solchen sicheren Ausgangspunkt weitgehend seiner Reaktion auf den pyrrhonischen Zweifel, dessen Verständnis sich vorrangig Montaigne verdankte, dem maßgeblichen Pyrrhoneer der Neuzeit.
Descartes fand eine Lösung, als er sich im November 1619 nach langen Reisen und dem Beobachten der vielgestaltigen menschlichen Sitten und Gebräuche in eine mit einem Holzofen beheizte Stube in Neuburg an der Donau zurückzog, um in Ruhe und mit Muße einen ganzenTag lang ungestört nachzudenken. Sein Ausgangspunkt war die Grundannahme der Skeptiker, nichts sei real und alle seine bisherigen Überzeugungen seien falsch. Dann tastete er sich langsam und vorsichtig weiter voran, «wie ein Mensch, der allein und im Dunkeln fortschreitet», um diese falschen Ansichten durch logisch untermauerte zu ersetzen. Es war ein rein mentaler Fortschritt: Während sein Geist sich Schritt für Schritt vorwärtsbewegte, blieb sein Körper vor dem Holzofen sitzen. Man kann sich vorstellen, wie er stundenlang auf die glühenden Holzscheite starrte. Descartes vor dem Ofen, vielleicht in der Pose von Rodins «Denker», ist das krasse Gegenbild des in seiner Bibliothek auf und ab gehenden Montaigne, der Bücher aus dem Regal zieht und sich dauernd ablenken lässt, die Eigennamen seiner Bediensteten nicht behalten kann und bei hitzigen Debatten auf Abendgesellschaften bei seinen Nachbarn oder während eines Ritts durch den Wald die besten Ideen hat. Selbst nach seinem Rückzug aus dem öffentlichen Leben stellte Montaigne seine Überlegungen stets inmitten dichten Trubels an, umgeben von Gegenständen, Büchern, Tieren und Menschen. Descartes dagegen brauchte die bewegungslose Zurückgezogenheit.
In einer Stube neben dem Ofen sitzend, entwickelte Descartes eine Argumentationskette, deren Glieder seiner Ansicht nach fest ineinandergefügt waren. Seine erste Entdeckung war, dass er existierte.
Ich denke, also bin ich.
Von diesem sicheren Punkt aus gelangte er allein durch Deduktion zu der Schlussfolgerung, dass Gott existieren müsse, dass seine «klare und deutliche» Vorstellung von der Existenz Gottes von Gott selbst stammen müsse und dass demzufolge auch alles andere, von dem er eine klare und deutliche Vorstellung hatte, wahr sein müsse. Diesen letzten Punkt formulierte Descartes noch kühner in seinen Meditationen , wo es heißt: «Alles, was ich klar und deutlich erkenne, ist wahr» – gewiss eine der erstaunlichsten Behauptungen der gesamten Philosophiegeschichte und denkbar weit entfernt von Montaignes Ansatz. Und doch entspringt all das der von Montaigne bevorzugten Schule des Skeptizismus, die alles in Zweifel zog, sogar sich selbst, und damit im Zentrum der europäischen Philosophie ein dickes Fragezeichen setzte.
Descartes’ angeblich unfehlbare Argumentationskette mag absurd erscheinen, erschließt sich aber im Kontext von Ideen des ihm vorausgehenden Jahrhunderts, von denen er sich eigentlich hatte befreien wollen. Gemeint sind insbesondere die beiden großen, durch Montaigne vermittelten Denktraditionen des Skeptizismus, der alles in Frage stellte, und des Fideismus, der auf der Grundlage des Glaubens alles wieder zusammenfügte. Descartes wollte auf keinen Fall dort landen. Er war alles andere als ein Fideist. Trotzdem lief es letztlich darauf hinaus; von dieser Tradition kam man nur schwer los.
Descartes’ eigentliche Innovation war die Intensität seines Strebens nach unumstößlichen Gewissheiten. Neu war auch seine denkerische Radikalität. Indem er versuchte, sich vom Skeptizismus zu befreien, dehnte er ihn zu einer bis dahin unvorstellbaren Länge wie einen Kaugummi, der einem am Schuh kleben geblieben ist. Das unendliche Verharren im Zweifel wie in einem «Meer der Spekulation» kam für Descartes nicht in Frage. Unsicherheit als Lebensform war für ihn keine Option wie für Montaigne und die Pyrrhoneer, sondern ein krisenhafter Zustand. Man spürt seine Desorientierung, wenn er in den Meditationen schreibt:
Ich bin durch die gestrige Meditation in Zweifel gestürzt worden, die ich nicht vergessen kann […], ich bin derart verwirrt, dass ich, gleichsam als wäre ich unvermutet in einen tiefen Strudel hineingezogen worden, weder auf dem Grund Fuß fassen noch zur Oberfläche emporschwimmen kann.
In der Entdeckung der albtraumhaften Seite des Skeptizismus verläuft die eigentliche Trennungslinie zwischen dem 17. Jahrhundert und Montaigne. In dieser «gestrigen Meditation» personifizierte Descartes, der stets prägnante
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