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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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weiter als bis zur Nasenspitze.»
    Montaigne liebte die offene Diskussion. «Keine Behauptung bringt mich aus der Fassung, und kein Glaube verletzt mich, sosehr er demmeinen zuwiderlaufen mag.» Es gefiel ihm, wenn man ihm widersprach, weil dadurch die Debatte belebt und er zum Nachdenken angeregt wurde. Montaigne liebte also den Austausch mit anderen, ganz anders als Descartes, der sich zum Nachdenken zurückzog und ins Feuer starrte. Montaignes Freund Florimond de Raemond beschrieb die Gespräche mit ihm als «sehr freundlich und äußerst kultiviert». Doch wenn Montaigne sich von einem Thema packen ließ, konnte er sehr laut werden. Er ließ sich dann zu taktlosen Äußerungen hinreißen und ermutigte andere, dasselbe zu tun. Frei heraus zu sagen, was man dachte, war in seinem Haus ungeschriebenes Gesetz. Bei ihm, sagte er, sei es nicht üblich, «den Besuchern beim Empfang entgegenzugehn und sie beim Abschied hinauszubegleiten – solche Förmlichkeiten und all die andren lästigen Höflichkeitsregeln (o diese uns knechtenden Konventionen!) sind bei uns außer Kraft gesetzt». Jeder war frei zu tun, was ihm beliebte, und seine Gäste konnten sich zurückziehen, ohne Anstoß zu erregen.
    Montaigne war nicht nur die formale Etikette, sondern auch langweiliger Smalltalk verhasst. Auch selbstbewusste Alleinunterhalter ödeten ihn an. Einige seiner Freunde konnten ihre Zuhörer stundenlang mit ihren Anekdoten in Bann ziehen, Montaigne bevorzugte das zwanglose Geben und Nehmen. Wenn bei offiziellen gesellschaftlichen Anlässen die Unterhaltung nur so dahinplätscherte, schweifte seine Aufmerksamkeit oft ab, und er hing seinen eigenen Gedanken nach. Wurde er dann angesprochen, gab er «wirres und lächerliches Zeug» von sich, «dessen sich sogar ein Kind schämen müsste». Er bedauerte dies, denn auch eine oberflächliche Konversation konnte zum Ausgangspunkt für einen intensiveren Gedankenaustausch und angenehmere Abende werden, wo man entspannt scherzen und lachen konnte.
    Für Montaigne waren «Gelöstheit und geselliges Wesen» nützliche Eigenschaften im Umgang mit anderen. Sie waren aber auch eine wichtige Voraussetzung, um gut zu leben. Er versuchte eine, wie er es nannte, «fröhliche und gesellige Weisheit» zu kultivieren – eine Formulierung, die an Nietzsche erinnert, der die Philosophie als «fröhliche Wissenschaft» bezeichnete. Wie die Libertins war Nietzsche mit Montaigne vom Nutzen des geselligen Miteinanders überzeugt,auch wenn ihm, Nietzsche, dieses Miteinander überaus schwer fiel. Doch in einer anrührenden Passage in seinem frühen Werk Menschliches, Allzumenschliches schrieb er:
    Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und deshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr achtzugeben hat als auf die großen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Äußerungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Tun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zutat zu dem, was für ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Betätigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichts, in denen alles wächst […]. Die Gutmütigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens […] haben viel mächtiger an der Kultur gebaut, als jene viel berühmteren Äußerungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt.
    Montaigne fiel es in der Regel nicht schwer, Freundlichkeit und Wohlwollen zu zeigen. Zum Glück, denn in seinem häuslichen, aber auch in seinem beruflichen Leben waren diese Eigenschaften unabdingbar: im Umgang mit den Kollegen in Bordeaux und später mit Diplomaten, Königen und mächtigen Kriegsherren; oft musste er mit Gegnern verhandeln, die von religiösem Fanatismus verblendet waren. Auch mit seinen Nachbarn musste er sich gutstellen, gleichfalls nicht immer eine leichte Aufgabe. Gelegentlich tauchen sie in den Essais auf, oft im Zusammenhang mit einprägsamen Geschichten: der knauserige Marquis de Trans aus der Familie de Foix, die in der Region großen Einfluss besaß; Jean de Lusignan, dessen heiratsfähige Kinder die Haushaltskasse mit ihren vielen Einladungen belasteten; François de La Rochefoucauld, der es als widerlich empfand, sich in ein Taschentuch zu schneuzen, und lieber die Hand benutzte. Hinzu kommen adlige Damen aus der Umgebung, denen er das eine oder andere Kapitel der

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