Wie soll ich leben?
bringen können, «meine Rechtstitel und wichtigsten Geschäftsunterlagen einzusehn». Er beschrieb sich als unzulänglich und unfähig in vielerlei Hinsicht:
Wo ich doch gar nicht rechnen kann, weder auf dem Zählbrett noch mit der Feder! Die meisten unsrer Münzen kenne ich so wenig, wie ich eine Getreidesorte von der andern zu unterscheiden weiß, ob auf dem Halm oder im Speicher (es sei denn, der Unterschied ist allzu offensichtlich); und in meinem Garten vermag ich Kraut- und Salatköpfe nur mit Mühe auseinanderzuhalten. Nicht einmal die Namen der wichtigsten landwirtschaftlichen Geräte kenne ich; und selbst die gröbsten Grundbegriffe des Ackerbaus, die doch jedem Kind geläufig sind, bleiben mir verschlossen. Noch weniger verstehe ich von den handwerklichen Künsten, vom Handel, vom Wert der Waren, von der Beschaffenheit und den Unterscheidungsmerkmalen der Früchte, der Weinsorten und der Nahrungsmittel. Weder kann ich einen Vogel abrichten noch ein Pferd oder einen Hund verarzten. Und um das Maß meiner Schandevoll zu machen, habe ich mich, es ist noch keinen Monat her, tüchtig blamiert, weil ich nicht wusste, dass man zum Brotbacken Sauerteig braucht und wie die Weingärung vor sich geht.
Montaigne betet den Katalog seiner Unzulänglichkeiten und Fehler genauso herunter, wie er später alles auflistet, was es bei den «Kannibalen» Brasiliens nicht gibt: Bedienstete, Obrigkeit, Verträge und Privateigentum, aber auch Lüge, Armut, Verrat, Neid und Gier. Was für ein Segen, auf all das verzichten zu müssen.
Nicht, dass Montaigne nichts dazulernen wollte. Grundsätzlich schätzte er praktische Kenntnisse und bewunderte alles, was konkret und handfest war. Aber er konnte nicht verhehlen, wie wenig ihn all das interessierte, und wenn man ihn unter Druck setzte, sträubte er sich nur noch mehr. «Da ich bis zur Stunde noch nie einem mir aufgezwungnen und mir Befehle erteilenden Gebieter folgen musste, blieb es meinem Belieben überlassen, wie weit und wie schnell ich voranschreiten wollte.» Diese Bemerkung zeigt, worauf es ihm letztlich ankam: Er wollte sein eigenes Leben leben. Seine Unfähigkeit in praktischen Dingen machte ihn «von Natur wie aus Vorsatz in höchstem Maße frei». «Freiheitsdrang und Müßiggang» zählte er zu seinen wichtigsten Charaktereigenschaften.
Er wusste, dass er dafür einen Preis zu zahlen hatte: Seine Ahnungslosigkeit wurde oft ausgenutzt. Doch es erschien ihm besser, gelegentlich Geld zu verlieren, als seine Zeit damit zu verbringen, sich über jeden Pfennig Rechenschaft abzulegen und seine Bediensteten auf Schritt und Tritt zu überwachen. Schließlich, so sagte er, würden auch diejenigen übers Ohr gehauen, die verhindern wollen, betrogen zu werden. Als Paradebeispiel diente ihm sein Nachbar, der mächtige Germain-Gaston de Foix, Marquis de Trans, der sich im Alter zum knauserigen Haustyrannen entwickelte. Seine Angehörigen und Bediensteten ließen ihn toben, «und dieweil er selber sich an der Sparsamkeit und Spärlichkeit seiner Tafel erbaut, geben sie sich in den verschiedensten Schlupfwinkeln seines Anwesens alle einem Leben in Saus und Braus hin, den Spielen und der Verschwendung frönend; besonders ergötzt man sich dabei an den Geschichten über seine wirkungslosen Vorkehrungen und Wutausbrüche». Und doch, fügt Montaigne hinzu, spieltedas keine Rolle, da der Greis überzeugt war, die Zügel straff zu führen, und dabei nicht glücklicher hätte sein können.
«Nichts setzt mir derart zu wie Mühen und Sorgen», schrieb Montaigne, «und nichts anderes erstrebe ich deshalb, als mich gegen sie zu feien und unbekümmert dahinzuleben.» Man kann sich gut vorstellen, wie Pascals Blutdruck beim Lesen dieser Zeilen nach oben schnellt. Was Montaigne nach eigenem Bekunden für sein Alter am meisten ersehnte, war ein Schwiegersohn, der ihm die Last der Verantwortung abnahm. Wäre er jedoch von einem Außenstehenden bevormundet und herablassend behandelt worden, hätte sein Unabhängigkeitssinn wohl dagegen aufbegehrt. Der Bemerkung über den Schwiegersohn folgen denn auch bald eine Reihe gegenteiliger Bekundungen:
Ich meide es, mich irgendwelchen Bindungen zu unterwerfen.
Ich versuche, keines Menschen dringend zu bedürfen […]. Welch erbärmliches und bedrohliches Los, von jemand anderm abhängig zu sein!
Ich habe einen tödlichen Hass darauf, mittel- oder unmittelbar anderen als mir selber verpflichtet zu sein.
Bei diesen Zeilen dachte er jedoch nicht an die
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