Wie soll ich leben?
gewaltsam eingenommen hatte und die Massentötung der Bewohner anordnete. Er gebot dem Morden erst Einhalt, als sich drei französische Adlige, in die Enge getrieben, erbittert verteidigten. Aus Bewunderung für ihren Mut schonte er ihr Leben und das Leben der Bewohner.
Diese Geschichten legen den Schluss nahe, Verteidigung sei diebessere Strategie. Aber im selben Essai werden Vorfälle geschildert, in denen genau das Gegenteil geschieht. Als Alexander der Große die Stadt Gaza erstürmte, traf er auf den Kommandanten Batis, der nun «allein, von den Seinen im Stich gelassen, mit zertrümmerter Rüstung und voller Blut und Wunden […] weiterkämpfte». Wie Edward bewunderte auch Alexander diesen Heldenmut, aber nur für einen kurzen Augenblick. Als Batis ihm frech ins Gesicht sah, verlor Alexander die Geduld. Er ließ ihm die Fersen durchbohren, ihn an einen Karren binden und zu Tode schleifen. Der besiegte Anführer war zu weit gegangen, er war an den falschen Gegner geraten.
Andere Geschichten führen nicht weniger deutlich die Gefahren der Unterwerfung vor Augen. Montaigne erinnerte sich lebhaft an Generalleutnant Tristan de Moneins, der in Bordeaux gelyncht wurde, nachdem er sich gegenüber den Rebellen des Salzsteueraufstands im Jahr 1548 allzu unterwürfig verhalten hatte. Wenn man Schwäche zeigt, weckt man im Gegner eine Art Jagdinstinkt, und dann ist alles verloren. Montaigne hat dabei einen Hirsch vor Augen, der nach stundenlanger Verfolgungsjagd erschöpft ist und keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich seinen Verfolgern zu ergeben, «mit seinen Tränen um Erbarmen bittend». Vergeblich.
Wie viele Auseinandersetzungen Montaigne sich auch vergegenwärtigte, jede schien eine individuelle Deutung und Antwort zu verlangen: ein Umstand, der ihn faszinierte. Der Besiegte, aber auch der Sieger muss die Situation richtig einschätzen und sich dementsprechend verhalten. Verschont er jemanden, der seinen Großmut als Schwäche interpretiert, könnte das seinen Tod bedeuten. Ist er zu hart, sind Rebellion und Racheakte die Folge.
Das Christentum kennt hier eine einfache Antwort: Der Sieger sollte stets Barmherzigkeit üben und das Opfer stets die andere Wange hinhalten. In der realen Welt funktioniert das nicht immer; und auch die Christen konnten sich in jener Zeit der blutigen Religionskriege nicht auf diesen Mechanismus verlassen. Montaigne beschäftigte sich kaum mit theologischen Fragen, er las lieber die klassischen Autoren. Die eigentlichen Schwierigkeiten waren in seinen Augen ohnehin eher psychologischer als moralischer Natur – und wenn moralischer Natur, dann in dem breit gefassten Sinn des Moralbegriffs der antiken Philosophie.Dort ging es nicht darum, bestimmten Vorschriften zu folgen, sondern in konkreten Lebenssituationen kluge und gerechte Entscheidungen zu treffen.
Letztlich war Montaigne der Ansicht, Sieger und Besiegte sollten einander ein Höchstmaß an Vertrauen entgegenbringen: Wie unter guten Christen sollte der Besiegte Gnade erflehen und der Sieger Gnade gewähren, allerdings mit kühner Entschlossenheit, «ruhigen Gesichts», frei von Nachgiebigkeit und Unterwerfung. «Selbstsicherheit und Vertrauen» seien auf beiden Seiten wünschenswert. Dieses Ideal hätte Montaigne in jener Szene auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing 1989 verwirklicht gesehen, als Panzer heranrollten und die Demonstration blutig niederschlugen. Es wird berichtet, ein Mann mit einer Plastiktüte in der Hand habe sich ihnen in furchtlosem, stummem Protest entgegengestellt. Der Fahrer des ersten Panzers hielt an. Hätte der Mann den Kopf eingezogen oder versucht zu fliehen oder hätte er geschrien und drohend die Faust geballt, wäre es für den Fahrer des Panzers leichter gewesen, ihn zu überrollen. Doch seine «Selbstsicherheit» und sein «Vertrauen» brachten den Gegner dazu, entsprechend zu reagieren.
Bei der Hirschjagd kann das nicht funktionieren, ebenso wenig zwischen einem Angeklagten und seinem Folterer, da Fanatismus und die Festlegung auf bestimmte Rollen hier sehr schwer zu überwinden sind. Krieg und Massenhysterie setzen die herkömmliche Psychologie außer Kraft. In der Antike und in gewisser Weise auch zur Zeit Montaignes wurde es als recht und billig erachtet, dass ein Soldat sich in der Schlacht nicht zurückhielt, sondern von furor erfüllt war, von einer affektgeladenen, rauschhaften Kampfeswut, bei der Mäßigung oder Gnade nicht zu erwarten waren.
Montaigne fand den furor und
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