Wie soll ich leben?
bemerkte spöttisch, Montaigne besteige sein Pferd wie jemand, der dazu kein Recht zu haben glaubt, «da er ja nicht weiß, ob jenes Tier nicht im Gegenteil das Recht hat, sich seiner zu bedienen». Das ist treffend beobachtet, und sosehr Pascal daran Anstoß nahm, so sehr hätte Nietzsche sich darüber gefreut. Dessen geistiger Zusammenbruch begann ja angeblich damit,dass er in Turin einem Pferd die Arme um den Hals schlang und in Tränen ausbrach.
Auch Leonard Woolf war von Montaignes Bemerkungen tief beeindruckt. In seinen Lebenserinnerungen hob er Montaignes Essai «Über die Grausamkeit» besonders hervor und würdigte dessen – bis dahin zumeist übersehenen – singulären Rang. Montaigne sei «weltweit der Erste gewesen, der diese starke persönliche Abneigung gegenüber der Grausamkeit zum Ausdruck» gebracht habe. Er sei «auch der erste ganz und gar moderne Mensch» gewesen. Beides gehörte für ihn zusammen, schließlich lag Montaignes Modernität ja gerade in seinem «ausgeprägten Bewusstsein und seinem leidenschaftlichen Interesse für seine eigene Individualität und die Individualität aller anderen Menschen» – und überhaupt aller Lebewesen.
Selbst ein Schwein oder eine Maus, so Leonard Woolf, habe ein Ich-Gefühl. Descartes hatte dies vehement bestritten, doch Woolf war durch persönliche Erfahrung, nicht durch die cartesianische Logik zu dieser Überzeugung gelangt. Als Kind hatte man ihn aufgefordert, neugeborene Welpen zu ertränken – für ein Kind eine erstaunliche Aufgabe. Er gehorchte, doch die Geschichte nahm ihn mehr mit, als er gedacht hatte. Jahre später schrieb er:
Oberflächlich betrachtet, sind einen Tag alte Welpen kleine blinde, sich windende, gestaltlose Objekte oder Dinge. Ich tauchte eines in einen Eimer Wasser, und augenblicklich geschah etwas Außerordentliches, Entsetzliches. Dieses blinde, amorphe Etwas fing an, verzweifelt um sein Leben zu kämpfen, es ruderte und schlug mit den Pfoten im Wasser. Und plötzlich erkannte ich, dass es ein Individuum war, dass es ein «Ich» besaß, genau wie ich, dass es ihm in seinem Eimer Wasser genauso ging wie mir, weil es genauso gegen den Tod ankämpfte, wie ich mich gegen den Tod wehren würde, müsste ich in den unermesslichen Weiten des Ozeans ertrinken. Damals wie heute empfinde ich es als grausam und barbarisch, dieses «Ich» in einem Eimer Wasser zu ertränken.
Die Lektüre Montaignes hatte Leonard Woolf diesen Vorfall ins Gedächtnis zurückgerufen. Die hier gewonnene Einsicht wandte er auf die Politik an, besonders im Rückblick auf die 1930er Jahre, als die Welt in einer Barbarei zu versinken drohte, die für dieses kleine individuelleIch keinen Platz mehr hatte. Im globalen Maßstab gesehen sei kein einzelnes Lebewesen von großer Bedeutung, schrieb Woolf, doch eine andere Betrachtungsweise rücke diese individuellen Ichs als das einzig Wesentliche ins Zentrum. Und nur eine Politik, die dies anerkenne, könne Hoffnung für die Zukunft geben.
Der Psychologe William James stellte ähnliche Überlegungen an. Wir können die Erfahrungen eines Hundes nicht nachvollziehen, meinte er, weder «seine Verzückung, wenn er unter einem Strauch einen Knochen findet, noch den Geruch von Bäumen oder Laternenpfählen». Ein Hund wiederum könne nicht nachvollziehen, wie es ist, wenn wir auf die Seiten eines Buches starren. Trotzdem hätten beide Bewusstseinszustände etwas gemeinsam: die «Freude» oder «prickelnde Erregung», die man empfindet, wenn man in dem aufgeht, was man tut. Diese prickelnde Erregung sollte uns vor Augen führen, wie ähnlich wir den anderen Lebewesen sind, trotz der verschiedenen Gegenstände ihres Interesses. Die Konsequenz solcher Erkenntnis ist Güte und Freundlichkeit. Diese Ähnlichkeit außer Acht zu lassen sei der größte politische, aber auch der größte persönliche und moralische Fehler, meinte James.
Nach Ansicht von William James, Leonard Woolf und Montaigne sind wir in unsere jeweilige Perspektive nicht eingemauert. Wir können aus unserem Bewusstsein heraustreten, wenn auch immer nur für einen kurzen Moment, um einen anderen Standpunkt einzunehmen. Diese Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen, ist die eigentliche Bedeutung der Aufforderung, gesellig zu leben. Sie ist die Antwort dieses Kapitels auf die Frage, wie man leben soll, und die größte Hoffnung auf Zivilisierung.
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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Erwache aus dem Schlaf
der Gewohnheit!
Alles ist eine Frage
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